Kulturpessimismus. Alexander Grau
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Reihe zu Klampen Essay
Herausgegeben von
Anne Hamilton
Alexander Grau,
geboren 1968, lebt und arbeitet in München. Er studierte an der Freien Universität Berlin Philosophie und Linguistik. Seit 2003 arbeitet er als freier Publizist, Kultur- und Wissenschaftsjournalist und veröffentlicht zu Themen der Kultur- und Ideengeschichte. Seit Juni 2013 ist Alexander Grau Kolumnist bei »CICERO-online«, wo er sich wöchentlich mit Fragen des politischen und gesellschaftlichen Zeitgeistes auseinandersetzt. Zuletzt ist von ihm erschienen »Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung« (2017).
ALEXANDER GRAU
Kulturpessimismus
Ein Plädoyer
Einleitung
DER Kulturpessimismus ist tot. Er gilt als überholt und unzeitgemäß, als ein angestaubtes Relikt aus einer Zeit, als elitäre Bildungsschnösel mit unverhohlener Verachtung auf die aufkommende Populär- und Massenkultur schauten und geistige Biedermänner an jeder Ecke den Untergang des Abendlandes witterten.
Zudem gilt der Kulturpessimismus als widerlegt. Das Abendland ist nicht untergegangen, im Gegenteil. Nie ging es uns besser. Und das nicht nur materiell. Landauf, landab blüht das Kulturleben. Befreit von der Engstirnigkeit und den Ressentiments vergangener Epochen sind die westlichen Gesellschaften bunter, vielfältiger und demokratischer geworden. Was als Kultur gilt und was nicht, ist nicht länger abhängig von dem paternalistischen Diktat einer vermeintlichen Elite und ihren sterilen Normen. Kultur ist im Leben angekommen und entfaltet sich aus den verschiedenen Lebenswirklichkeiten einer pluralistischen Gesellschaft heraus. So entsteht Diversität und Spannung, wo früher nur Eintönigkeit und Ödnis herrschte – soweit zumindest das Fazit progressiver Kulturoptimisten.
Hinzu kommt, dass Kulturpessimismus keinen Spaß macht. Kulturpessimisten sind Miesepeter, übelgelaunte Griesgrame, die den Menschen nicht ihr Vergnügen gönnen, sondern überall den Kulturverlust fürchten, den Verfall der Sitten, des guten Geschmacks und des Anstandes. Kulturpessimisten sind die Spielverderber in einer Gesellschaft, in der das Spiel der höchste Lebenssinn geworden ist. Und schließlich sind Kulturpessimisten gefährlich. Sie verachten die Moderne und ihre Errungenschaften, also all jenes, auf das der moderne Mensch so unendlich stolz ist: Emanzipation, Individualismus, Freiheit. Deshalb sind Kulturpessimisten politisch suspekt. Sie stehen in dem Verdacht, vormodernen, autoritären und undemokratischen Gesellschaften hinterherzutrauern, Gesellschaften, in denen der Mensch nicht nach Selbstverwirklichung strebte, sondern Lebenssinn im Dienen fand, in denen nicht der einzelne zählte, sondern die Familie, das Volk, die Nation oder ein anderes Kollektiv.
Kurz: Kulturpessimisten umgibt der Schwefelgeruch des Antidemokraten, des Antiaufklärers und Liberalismusverächters. Solche Gestalten sind zumindest suspekt. Für einen aufgeklärten modernen Menschen haben ihre Analysen und Beobachtungen etwas Anrüchiges. Es gehört daher zum guten Ton, vor Kulturpessimismus zu warnen. Er sei, so der Vorwurf, eine hässliche Ideologie von Menschen, die gefangen sind in Ressentiments gegen die dynamische Welt der globalisierten Moderne.
Selbst auf seiten der politischen Linken finden sich daher keine ernsthaften Kulturpessimisten mehr, was um so erstaunlicher ist, als die Linke mit Theodor W. Adorno und der auf ihm aufbauenden Kritik des modernen Medien- und Massenkulturbetriebes den letzten profilierten kulturkritischen Denkansatz hervorgebracht hat. Doch die Linke hat ihren Frieden mit der Massenkultur gemacht, mit den Zumutungen der elektronischen Medien und der Kommerzialisierung aller Lebensbereiche. Zu eng war die Verbindung linker Protestbewegungen der sechziger und siebziger Jahre mit der Popkultur, zu groß die Abneigung gegen alles, was als bürgerliche Herrschaftsinstrumente identifizierbar war. Also pflegte man einen rebellischen Kult des Antibürgerlichen und verschrieb sich der hedonistischen Zerstörung aller als einengend empfundenen Formen, Regeln und Normen.
Dass man sich dabei zum willfährigen Erfüllungsgehilfen einer globalen Massengüterindustrie machte und damit das förderte, was man zu bekämpfen vorgab, fiel den wenigsten auf. Im Namen von Selbstverwirklichung und individueller Lebensgestaltung machte die Linke so ihren Frieden mit den Produzenten massenhaft konsumierbarer Individualität. Die Systemkritik selbst wurde in Gestalt von Popmusik und Mode zum Massenprodukt. Der revolutionäre Habitus zu einer Pose, für den die Konsumgüter- und Unterhaltungsindustrie das Equipment zur Verfügung stellt.
Konsequenterweise wurde die Ironie zum intellektuellen Accessoire der Progressiven und Modernitätsgläubigen. Sie ermöglicht die bedingungslose Teilhabe an der kapitalistischen Massenkultur und den hedonistischen Konsum ihrer medialen und realen Produkte bei gleichzeitig zur Schau gestellter Distanz. Alles scheint legitimiert durch sein Selbstverwirklichungspotential und seinen Unterhaltungsfaktor. Zudem eröffnet Ironie als progressiv empfundene Lebenshaltung die Möglichkeit, gedankliche Faulheit und Unernst zu kaschieren. Den sensibleren Gemütern gestattet der ironische Gestus die Teilhabe an der postmodernen Massenkultur. Denn allein die ironische Haltung macht den alles nivellierenden Pankulturalismus erträglich. Sie ist das Anästhetikum des Geistes, um die Veränderungen der Moderne und der sie affirmierenden Ideologien überhaupt noch zu ertragen. Ironie aber, die im besten Fall einen intellektuellen Schutz darstellt und eine Methode, den Kulturzerfall in der Moderne wahrzunehmen, ohne in den Verdacht zu geraten, aus der Zeit gefallen zu sein, erstarrt zur traurigen Pose.
Eine Gesellschaft, zu deren Kultur die Affirmation von so ziemlich allem gehört, was als »Kultur« daherkommt und für die die Vorstellung, dass es kulturell Minderwertiges gibt, ein geradezu ketzerischer und skandalöser Gedanke ist, hat im Grunde jede Kritik von Kultur aufgegeben, auch wenn sie die Kulturkritik nach wie vor als leere Monstranz vor sich herträgt. Kultur wird so zur Nullformel, die, eben weil sie inhaltsfrei und beliebig ist, auch das Trivialste adelt. Vor dem Hintergrund der europäischen Kulturgeschichte ist das eine erstaunliche Entwicklung. Noch vor wenigen Jahrzehnten gehörte es zu den unausgesprochenen Gewissheiten europäischer Gesellschaften, dass nicht alles, was Menschen geschaffen haben, auch das Prädikat Kultur verdient, dass es kulturelle Entwicklungen gibt und damit auch die Möglichkeit des Niedergangs einer Kultur. Mehr noch: Die Unterscheidung zwischen Kultur, Hochkultur und Nichtkultur und das Bewusstsein, dass Kulturen auch zerfallen können, war geradezu konstitutiv für das Selbstverständnis europäischer Kulturgesellschaften. Dieses traditionelle Kulturkonzept wurde im Zuge der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse der sechziger und siebziger Jahre endgültig aufgegeben, ideologisch flankiert durch die in dieser Zeit entstehenden Kulturwissenschaften. An die Stelle eines normativen Kulturbegriffs trat ein pan- und transkulturelles Kulturverständnis. Zugleich begann die zunehmende Desavouierung des Kulturpessimismus.
Der vorliegende Essay ist der Versuch, den Kulturpessimismus zu rehabilitieren. Das kann jedoch nicht einfach dadurch geschehen, dass man auf alte kulturpessimistische Analysen und Motive zurückgreift. Kulturpessimismus, der sich in Nostalgie erschöpft, ist nicht mehr als seine eigene Bestätigung. Hinzu kommt, dass die klassischen kulturpessimistischen Ansätze des 19. und 20. Jahrhunderts ihren Schlüsselbegriff seltsam unterbelichtet ließen: Man setzte einfach ein Alltagsverständnis von Kultur voraus, ohne dieses zu konkretisieren oder gar zu hinterfragen. Das Analyseinstrumentarium des klassischen Kulturpessimismus ist somit aus heutiger Sicht eher dürftig und erschöpft sich nicht selten in Ressentiments gegenüber der Moderne.
Aus diesem Grund beginnt der vorliegende Essay mit einer Beschreibung dessen, was Kultur ist. Kultur, so die These, ist zunächst ein Ordnungssystem, das der Mensch der unberechenbaren und bedrohlichen Natur entgegensetzt. Kultur ist Kontingenzbewältigung, sie strukturiert den Raum und die Zeit und ermöglicht damit Planbarkeit, Orientierung und Übersicht. Vor allem schafft sie einen