Coaching. Sonja Becker
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Gleichzeitig erscheint in der Melancholie der menschliche Zug. Vorbei ist die Idealisierung „des Menschen“ als ein höhergeleitetes Wesen, das Idealbild, das niemand ausfüllen kann. Nietzsche fleht, nicht der Melancholie oder der Angst zu verfallen, sondern sich der Leichtigkeit, Möglichkeit und Heiterkeit des Lebens bewusst zu werden – durch das „möglichst kleine Maß an Selbstüberwindung ... warum an dieser Scholle, diesem Gewerbe hängen, warum hinhorchen nach dem, was der Nachbar sagt? Es ist so kleinstädtisch, sich zu Ansichten zu verpflichten, welche ein paar hundert Meilen schon nicht mehr verpflichten. (...) Niemand kann Dir die Brücke bauen, auf der gerade Du über den Fluss des Lebens schreiten musst, niemand außer Dir allein. (...) Es gibt in der Welt in der Welt nur einen einzigen Weg, auf welchem niemand gehen kann, außer Dir. Wohin er führt? Frage nicht, gehe ihn.“ (Unzeitgemäße Betrachtungen III: 340) Das ist Kants „Zweck an sich“ und Nietzsches Neugier. Sein berühmter „Wille zur Macht“ bedeutete übrigens Macht über sich selbst, die Fähigkeit, über sich hinauszuwachsen, genau im Sinne dieses Zitats. Was seine Schwester ihrem rechtskonservativen Mann zuliebe aus Nietzsches Texten gemacht hat, als dieser längst im Irrenhaus saß, ist eine andere Geschichte. Aber nur dieser Verdrehung der Inhalte Nietzsches ist die aberwitzige Groteske der Geschichte zu verdanken, dass Elisabeth Foerster-Nietzsche gemeinsam mit Adolf Hitler einen Kranz auf Nietzsches Grab niederlegt.
Angesichts der zeitgenössischen gesellschaftlichen Entwicklungen wird Melancholie, die Verzweiflung an der eigenen Unfähigkeit, sich selbst zu entwickeln und sich gegen die Institutionalisierung der Freiheit durch den Staat durchzusetzen, in Deutschland geradezu zur Zuflucht, zur Sucht. Die deutsche Volksseele – eine feine Art der Verzweiflung. Erst im Zeitalter der Industriellen Revolution, der Geburtsstunde des Fortschritts, sah das Bürgertum zum ersten Mal die Chance, sich durch Arbeit mit dem Adel auf eine Stufe zu setzen und die staatliche Macht mit ökonomischer Macht zu überwinden und gleichzeitig „von der ehemals gesuchten Melancholie loszukommen“ (Lepenies 1969: 204). Tatsächlich verabschiedet man sich im deutschen Kulturkreis von den Werteparadigmen, die sie selbst geschaffen hat – Aufklärung, Idealismus, Romantizismus – und wendet sich den Idealen des kartesianischen, mechanistischen Weltbildes mit ihrer klassischen Trennung von Körper und Geist und der Naturwissenschaft zu, deren Erkenntnisse sich immer besser industriell verwerten lassen.
Die Menschen und ihre Befindlichkeit bleiben allerdings im Zuge der Industrialisierung auf der Strecke. Sie, die gerade noch durch ihre Philosophen ihre Selbstbestimmung vor Augen hatten, geraten in die nun realen Maschinenhallen der Fabriken. Sie empfinden und akzeptieren ihr Dasein als sinnlos und treten die Flucht in die Natur, in die Einsamkeit oder in den Tod an. Wie bei Kierkegaard zu lesen ist, der alle Menschen für langweilig hält, schließlich bei Sigmund Freud, später dem brillanten und tragischen Essayisten Walter Benjamin und den Schriftstellern Gottfried Benn, Rainer Maria Rilke, Georg Trakl, Thomas Mann, Robert Musil, den Kulturkritikern Heidegger und Adorno.
William James, von 1867 bis 1868 Medizinstudent in Berlin, war von der deutschen Grundstimmung so erfasst, dass er daraufhin seinen Pragmatismus „erfand“, um sich von der in Deutschland erfahrenen Melancholie zu befreien: „Oh God! An end to idle, idiotic sinking into Vorstellungen disproportionate to the object“ (zit. in Melancholie 182). Melancholie – nicht zuletzt ein Erbe der protestantischen Lehre Luthers, seit der man sich mit sich selbst auseinandersetzen muss – ist für William James „der Niedergang der Lebensneugierde“. Sie entsteht aus Enttäuschung über die vorgefundene Wirklichkeit und die Unfähigkeit, jene Brücke zwischen Wirklichkeit und Ideal zu gehen, die Nietzsche nahegelegt hat. Es ist übrigens die persönliche Kommunikation und die reale Beziehung mit anderen Menschen und der Wille zu tatkräftiger Arbeit, die ihn rettet: „For the remainder of the year, I will abstain from the mere speculation and contemplative Grübelei in which my nature takes most delight, and voluntarily cultivate the feeling of moral freedom, as well by acting. (...) Not in maxims, not in Anschauungen, but in accumulated acts of thought lies salvation“ (Letters, Vol. 1, 147f., zit. Melancholie 184).
Die Diskrepanz zwischen der Freiheit zur Selbstverwirklichung aus der Aufklärung und der ständigen Behinderung durch den „Staat“ als ordnende Form zieht sich, wie wir gesehen haben, wie ein roter Faden durch die deutsche Kulturgeschichte. Geblieben ist die traditionelle latente Gewohnheit, viele Dinge als schicksalsergeben hinzunehmen, die eigentlich in unsere private Lebensplanung fallen könnte. Nicht nur die Rente, auch die Karriere. „Sie alle würden die Frage: ‚wozu lebst du?’ schnell und mit Stolz beantworten – um ein guter Bürger, oder Gelehrter, oder Staatsmann zu werden – und doch sind sie etwas, was nie etwas Anderes werden kann, warum sind sie dies gerade?“. Nietzsche meint damit seine Zeitgenossen, die Angestellten seiner Zeit. Hat sich daran etwas geändert?
Wirtschaftswunder und Wirtschafts-Melancholie
WIRTSCHAFTSWUNDER UND WIRTSCHAFTS-MELANCHOLIE
Der Grundstimmung der Bundesrepublik blieb die Melancholie aufgrund der jüngsten historischen Ereignisse erhalten, und „Kompensation war und blieb das Wirtschaftswunder“, stellt der Melancholie-Experte Wolf Lepenies fest. Im sportlichen und mentalitätsgeschichtlichen Sinne sicher das „Wunder von Bern“. Die wirtschaftliche Eigendynamik der Fünfziger Jahre entspricht allerdings nicht dem Pragmatismus etwa amerikanischen Zuschnitts – es handelte sich für viele eben um „Wunder“. Erst jetzt, in der modernen Ökonomie Deutschlands im 21. Jahrhunderts, schickt sich auch die Bundesrepublik endlich an, weniger Staat und mehr Zivilbürgertum zu schaffen. Dreh- und Angelpunkt zu der Hinwendung ist die Eigenverantwortung und Verwirklichung einzelner in Gestalt der Verwirklichung ihrer Utopien, als Karriere. Tatsächlich ist, wie die Systemtheorie sagt, der Wirtschaftsmarkt der einzige Raum, der zur Verwirklichung von Utopien bleibt. Aber der moderne Markt ist nicht U-topia mit räumlicher Beschränkung, sondern A-topia, ein Raum ohne Privilegien und Grenzen, der der Ungleichheit der Menschen Rechnung trägt und jedem durch die allgemeinen Regeln der Wirtschaft eine Chance einräumt: „in einer utopischen Gesellschaft mit globalem Radius findet die Marktutopie die Bedingungen ihrer Selbstverwirklichung. Auch wenn Marktökonomen dies habituell ausblenden, so leiden ihre idealisierten Märkte bislang doch an der territorialen, ortsgebundenen und örtlich bindenden Vormundschaft des Staates.“ (Willke 2001:13)
Mit dem in Deutschland vererbten Abhängigkeitsgefühl von „Vater Staat“ ist es nun endgültig vorbei. Das Ende des Wohlfahrtsstaates ist erreicht – und damit auch das Ende des Pessimismus. Zuletzt hat sich die sozialistische Utopie an ihrer Gängelung und ihrem Einheitszwang selbst zur Strecke gebracht. Noch aber herrscht eine gewisse, wenn nicht traditionelle Art von Melancholie gegenüber den wirtschaftlichen Entwicklungen. Im wiedervereinigten Deutschland hatte sich zunächst die Utopie von „blühenden Landschaften“ als frustrierender Trugschluss erwiesen, der auch den Westen Deutschlands befällt: Je weniger Geld man hat, desto öfter stellt man sich die Frage, wofür man den speziell eingeführten „Solidaritätszuschlag“ bezahlt, der für den fast aufgegebenen „Aufbau Ost“ bestimmt ist. Keine Frage: Das Warten muss ein Ende haben. Das Handeln beginnt. Deutschland steht an einem Punkt, an dem die Überschätzung des Staates als unser Versorger Schicksalsträger nur dazu führen würde, dass es noch mehr Arbeitslose und mehr Markt-Melancholie gibt. Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert kann heute niemand mehr vom Staat mit besseren Chancen ausgestattet werden.
Heute spielen alle nach den gleichen Regeln: „Statt auf Gleichheit der Menschen setzt die Marktutopie auf die Gleichheit gegenüber den Regeln des Marktes. Tatsächlich kennen diese Regeln keine Privilegien. Bill Gates unterliegt diesen Regeln in gleicher Weise wie Tante Emma, General Motors ebenso wie die Garage an der Ecke.“ (Willke 2001:9) Es kommt nur darauf an, diese Regeln zu verstehen und zu kennen.
Man kann ohne weiteres von unseren alten Einschränkungen eines ver- und fürsorgenden Staates abrücken und sich der