Nataschas Winter. Susanne Scholl
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Es ist ein dichter Mischwald, in dem es immer noch duftet – obwohl, wie wir feststellen müssen, an dieser Stelle schon viele Reisende vor uns Halt gemacht haben. Adlerauge wagt sich als Erster hinter einen Baum, die Kartenleserin folgt ihm etwas zögernd nach. Schließlich begebe auch ich mich ins Dickicht – und bin von uns dreien schließlich die Einzige, die es zuwege bringt, in diesem duftenden Wald in einen unangenehm riechenden, klebrigen, angeblich Glück bringenden Haufen zu treten.
Trotz aller Zivilisationsschäden finden wir hier viele Pilze. Schließlich hat es in den vergangenen Wochen oft geregnet. Wären wir noch in Moskaus näherer Umgebung, hätten wir hier keinen einzigen Pilz mehr zu Gesicht bekommen. Doch die eiligen Reisenden können, so wie wir, nichts anfangen mit dem russischen Leibgericht in seiner natürlichen Umgebung. Nur ein Witzbold hat einen großen Pilz ausgerissen und mitten in die Sonne an den Rand des sandigen Waldwegs gestellt.
Eine große Möwe, die sich vom nahe gelegenen Flüsschen hierher verirrt hat, beäugt ihn. Da wir alle müde sind und nur wenig und leise sprechen, beachtet sie uns nicht. Langsam und hüpfend nähert sie sich dem für sie wohl verführerisch aussehenden merkwürdigen Gast am Wegrand. Ganz geheuer ist ihr die Sache aber offenbar nicht. Denn als sie den Pilz endlich erreicht hat, pickt sie kurz gegen dessen hübschen hellbraunen Hut und zieht sich dann ebenso hüpfend gleich wieder zurück.
Adlerauge und die Kartenleserin, die nicht nur unglaubliche Tierfreunde, sondern auch ihrem Alter entsprechend geradezu rabiate Tierschützer sind, beobachten die Möwe wie hypnotisiert. Später, wieder im Auto, ergehen sie sich in Überlegungen darüber, ob es denn für eine Möwe tatsächlich gut sein könne, derlei Pilze zu verspeisen. Und ob der Witzbold, der den Pilz so verführerisch aufgestellt hat, denn nun ein Tierfreund oder aber ein Verbrecher sei. Denn ob Möwen tatsächlich Pilze vertrügen – das wüssten sie nicht. Da sind wir allerdings schon längst wieder unterwegs, fahren vorbei an riesigen, hellen Wäldern. Weit und breit kein Haus, nur manchmal steigt in der Ferne ein dünner Rauchfaden in die Luft. Vielleicht von Reisenden, die sich tiefer in die Wälder gewagt und dort ein Lagerfeuer entzündet haben – was Adlerauge und die Kartenleserin als unverantwortlich bezeichnen, denn was würde aus den Waldtieren werden, wenn die dummen Menschen mit ihrem Lagerfeuer möglicherweise einen Waldbrand auslösten?
Da es aber gerade wieder einmal ein bisschen geregnet hat, beruhigen sie sich selbst mit der Feststellung, der Wald sei ohnehin viel zu nass, um zu brennen. Woher aber, so fragen sie sich und mich, woher kommen dann die dünnen Rauchsäulen, die wir hier und da bemerken.
Das Dorf
Das Dorf liegt hinter einem Wald, wo man es eigentlich gar nicht vermutet. Es macht sich nicht bemerkbar; der Rauch aus seinen Schornsteinen steigt nur selten hoch genug, um noch jenseits der Bäume sichtbar zu sein. Die Kühe bleiben auf den Wiesen dahinter, und wenn der Regen sie wieder einmal auf der Weide überrascht, stellen sie sich auf ihrer Seite des Waldes unter. Die Pferde machen gerne etwas weitere Ausflüge, aber auch sie bevorzugen jene Gegenden, in denen kaum Gefahr besteht, Menschen zu begegnen, die sie nicht kennen.
Das Dorf macht ganz den Eindruck, als ob ihm dieses vergessene Dasein gar nicht so schlecht gefiele. Seine Straßen sind Wiesenstücke, an deren Rändern die Holzhäuser aufgereiht stehen. Äußerlich unterscheiden sich die Häuser manchmal durch ihre Farbe, im Inneren aber gleichen sie einander, wie sich Geschwister eben gleichen, die ihr Leben miteinander verbringen.
Menschen, die sich nach langen, quälenden Autofahrten auf ebenso langen und quälend schlechten Asphaltstraßen hierher verirren, neigen in der Regel dazu, die ersten Stunden im Dorf mit Auf-und-ab-Gehen auf den Wiesenstraßen zu verbringen. Weil ihnen die Füße eindringlicher vermitteln, was sie den eigenen Augen nicht glauben wollen.
Die Dorfstraße schmücken in regelmäßigen Abständen alte Ziehbrunnen aus Holz. Einer für jedes Haus. Aus ihnen holen die Dorfbewohnerinnen das Wasser. Immer noch. Obwohl das Dorf seit mehr als zwei Jahrzehnten über elektrischen Strom verfügt. Den braucht das Dorf aber nicht für Wasserpumpen, den braucht es für das Fernsehen.
Denn das Dorf liegt zwar hinter den sieben Bergen, aber seine Bewohnerinnen wissen genau, was in der Welt vor sich geht.
Die Bewohnerinnen. Und wo sind die Männer? Tot.
Das Dorf hat keine Schwierigkeiten mit dieser Wahrheit.
Die Männer hier sterben früh, die Frauen später. Früher hat das Dorf dem Samogon – dem aus Kartoffeln und Zucker selbst gebrannten Schnaps – die Schuld daran gegeben.
Aber jetzt hat sich das Dorf eine neue Ursache aus dem Fernsehen geholt. Die Umweltverschmutzung. »Die hat die Männer umgebracht«, sagen die Frauen im Dorf. »Der Samogon«, sagen sie, »kann es nicht gewesen sein. Denn den trinken wir auch.« Manchmal bis zwei Uhr früh.
Manchmal steht um diese Zeit auch die Kuh plötzlich vor der Tür. Wenn sie am Abend zuvor keine Lust hatte, zusammen mit den anderen von der Weide zurück ins Dorf zu kommen, und in der Nacht schleunigst gemolken werden will. Dann steht Pelageja Iwanowna auf und tut, was die Kuh verlangt.
Pelageja Iwanowna ist rund, trinkfest und siebzig Jahre alt. Und führt einen alten russischen Namen, dem man heute kaum noch begegnet. Was ihr im Leben nicht immer nur Freude gemacht hat. Aber zum Glück hat sie fast nur hier im Dorf gelebt – sieht man einmal von der Zeit ab, als sie zur Schule musste.
Mit den meisten Frauen im Dorf ist sie irgendwie verwandt. Früher war sie die Dorflehrerin. Früher, als es noch eine Dorfschule gab. Als hier noch Kinder zur Welt kamen und junge Familien lebten. Früher, als es auch noch eine Dorfkrankenschwester gab und der Bezirksarzt zweimal im Jahr kam.
Geholfen hat er kaum einem. Aber man konnte ihm die von der Feldarbeit und vom Melken geschwollenen Füße und Hände zeigen und sich von ihm freundliche Ratschläge geben lassen.
Jetzt muss man in die Bezirkshauptstadt reisen, wenn man den Arzt braucht. Vier Kilometer zu Fuß durch den Wald, dann eine Stunde mit dem Bus. Pelageja Iwanowna und ihre Nachbarinnen brauchen den Arzt nicht. »Sterben«, sagen sie, »sterben können wir auch alleine.«
Wenn – ganz selten – Besuch von jenseits des Waldes kommt, gibt es Streit zwischen Pelageja Iwanowna und ihren Nachbarinnen. Wer darf die Gäste bewirten; bei wem sollen sie übernachten; wer sorgt für das Pferd, das den Wagen mit dem Gepäck die vier Kilometer durch den schlammigen Wald zieht; und auch dafür, dass die wenigen noch lebenden Männer sich erst dann betrinken, wenn der Besuch glücklich wieder zur Straße zurückgebracht worden ist?
Schließlich erwartet niemand im Dorf, dass die Gäste zu Fuß kommen. Vier Kilometer durch den Wald. »Wir sind das gewohnt, aber die von draußen …?«, sagen die Frauen.
Wer die Gäste bei sich beherbergt, darf sie den Übrigen nicht vorenthalten. Das ist die Regel im Dorf.
Am Abend kommen die Nachbarinnen bei der Gastgeberin zusammen. Und beweisen, dass der Samogon ihnen nichts anhaben kann. Dann kriegen auch die wenigen Männer ihr Gläschen.
Wenn Gäste kommen, kann es auch passieren, dass man plötzlich über Dinge in Wut gerät, die sonst nicht wichtig sind. Über Dinge jenseits des Waldes.
Eigentlich wissen sie ganz genau, was draußen los ist. Alles kommt mit dem Fernsehen ins Dorf. Oder mit dem Besuch. Manchmal auch mit den Verwandten, die die Kinder im Sommer hierher schicken, wenn die Schulen fast drei Monate lang schließen, und man nicht weiß, was anfangen mit ihnen in dieser langen Zeit. Manchmal auch, wenn eine von den Frauen eine große Reise antritt. Nach Moskau. Vier Kilometer zu Fuß durch den Wald, eine Stunde mit dem