Die Wachtturm-Wahrheit. Barbara Kohout

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Die Wachtturm-Wahrheit - Barbara Kohout

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Schulen seinen Glauben ganz verliert. […] Die Bildungssysteme sind sehr mangelhaft und der laufende Studiengang für einen Christen von wenig praktischem Wert. Die vor Harmagedon verbleibende kurze Zeit sollte so nutzbringend als möglich verbracht werden. Der Druck auf den Glauben und die Lauterkeit eines Schülers von jeder Seite des Schullebens her ist für den Schüler schwer. Von der einen Seite wird seinem Sinn fortwährend die Evolutionstheorie und der Unglaube aufgezwungen, und aus anderer Richtung suchen die Kräfte der Unsittlichkeit seine christliche Grundlage zu untergraben und zu zerstören. Wer offen Stellung nimmt für Gottes Königreich der Gerechtigkeit als des Menschen einzige Hoffnung wird oft boshaft verleumdet, lächerlich gemacht und von der Studentenschar wie von der Lehrerschaft verfolgt. […] alle Unterrichteten werden unbedenklich zugeben, dass in den gegenwärtigen Bildungssystemen manches verkehrt ist …“

      Der Kernsatz dieses Wachtturms ist wohl der:

       „Es ist gut, wenn du deinem Sinn und auch dem Sinn anderer die Nähe Harmagedons einprägst … Es wird somit offenbar, dass die oben erwähnten Gründe … dafür sprechen, dass man nicht in eine höhere Schule gehe.“ „Denkt daran; Jesus war ein Zimmermann und Paulus ein Zeltmacher, andere waren Fischer … Es ist daher für Glieder der Organisation des Herrn, die ihr Leben dem Königreich geweiht haben, gut, wenn sie sich von einer Teilnahme an Schulsport oder Athletik und von gesellschaftlichen Anlässen der höheren Schulen zurückhalten. Indem sich jemand von den Dingen dieser Welt abgesondert hält, kann er sich zum Felddienste völliger mit des Herrn Volk verbinden.“

      Allein dieser eine Artikel enthielt so viel Negatives über das Schulleben und seine Auswirkungen. Natürlich war es da kein Wunder, dass mein Vater strikt gegen den Besuch einer höheren Schule war. Ob die Beschreibung der Zustände an den Universitäten zutreffend war oder nicht, konnte mein Vater nicht beurteilen. Als Kriegshalbwaise konnte er schon von Glück reden, dass seine Mutter ihn nach vier Schuljahren in eine Handwerkslehre gegeben hatte.

      Viele akademische Berufe wurden uns im Übrigen so dargestellt, als wären sie für das neue Paradies völlig sinnlos, da es dort weder Krankheit noch Rechtsstreitigkeiten gäbe und auch alle Menschen wieder eine gemeinsame Sprache hätten und vollkommen würden. Ein Universitäts-Studium hätte für die Zeit nach Harmagedon einfach keinen Wert.

      Aber war die mangelnde Bildung wirklich der Grund dafür, dass mein Vater dem Überbringer dieser neuen Lehre mehr glaubte als meinem Lehrer? Wieso hat er sich nicht gewundert, dass unsere Lehrer, Ärzte, Apotheker, Architekten und andere Hochschulabsolventen weder unsittlich noch kriminell oder gottlos waren? Auch war das Ehepaar, das bereits vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges mit den Bibelforschern in Verbindung stand, ganz gewiss nicht ungebildet. Sie hatten eine Bäckerei und wurden bald unsere Gönner als wir begannen, regelmäßigen Kontakt mit der Gruppe zu pflegen. Ich ging oft mit ehrfürchtigem Staunen in deren Bibliothek und betrachtete die vielen Bücher. Den großen Brockhaus, die jüdische Geschichte von Josephus, die Werke von Schiller und Goethe, sowie viele Klassiker der Literaturgeschichte. Diese Leute waren sowohl gebildet als auch tief gläubig. Die Frau sagte jeweils: „Ob einer oder keiner, viele oder wenige, es glauben oder nicht glauben, spielt für mich keine Rolle. Wir können sicher sein, dass Gott seinen Vorsatz verwirklichen wird.“ Auch sie glaubte daran, dass sie in der Wahrheit seien.4

      Der Ausdruck „Die Wahrheit“ wird bei den ZJ als absoluter Begriff verwendet. „Wenn eine Gruppe diese ausschließlich für sich beansprucht, wird es zum Dogma. Es wird keine alternative Möglichkeit zugelassen. Das ist eine Methode der Immunisierung gegen kritisches und eigenständiges Denken.“ (Aa W, S. 27,28)

      Ich habe mir inzwischen einen ganzen Stapel Bücher besorgt, in denen ich nach Antworten auf meine vielen Fragen suche.

      Eine mögliche Erklärung gibt mir M. T. Singer5 mit dem Hinweis,

      „dass jeder von uns für Schmeicheleien, Täuschung und Verführung anfällig ist, wenn er einsam, traurig und bedürftig ist. Die Menschen sind im Allgemeinen nicht Suchende, sondern die Sekte geht aktiv und aggressiv vor, um Anhänger zu werben.“

      Das stimmt schon, mein Vater war alles andere als ein Suchender nach einer neuen Religion. Ganz im Gegenteil. Er hatte sich von seiner Religion losgesagt, weil er enttäuscht war von ihr. Gott hatte den Krieg nicht verhindert, der so viel Leid und Zerstörung über die Menschen gebracht hat, sondern hat sogar noch seine Diener beauftragt, die Waffen zu segnen. Das konnte er nicht verstehen. Er wollte von Religion nichts mehr wissen. Tatsache ist aber auch, dass wir traurig waren, ja traumatisiert, arm, bedürftig und entwurzelt. Unwillkommene Flüchtlinge in einer fremden Welt. Strandgut nach einer unbeschreiblichen Katastrophe, die sich 2. Weltkrieg nannte.

      Die Schmeichelei, mit der meine Eltern umgarnt wurden, war verführerisch. Das Argument, dass Jehovas Zeugen sich nicht am Krieg beteiligt hatten und dass sie sogar wegen ihrer Weigerung, das Heil von dem Führer Hitler zu erwarten, im KZ waren, war für meinen Vater so überzeugend, dass er alle weiteren Erklärungen bereitwillig als Die Wahrheit akzeptierte.

      Frau Singer sagt:

      „In der Anwerbungsphase wird in der Regel mit Täuschungen gearbeitet, und neue Mitglieder haben keinerlei Vorstellung darüber, was von ihnen erwartet wird, wenn sie einmal Mitglied sind. Aus den Berichten vieler ehemaliger Sektenmitglieder weiß ich, dass die Erfahrungen, die sie, im Netz der Gruppe verfangen, gemacht haben, vom ersten Eindruck, den sie hatten, recht verschieden waren.“

      Dem kann ich nur voll zustimmen. Mein Vater wäre niemals ein Zeuge Jehovas geworden, wenn er von den Aufrufen in den Wachtturmausgaben von Juni und August 1915 gewusst hätte. Darin wurden die deutschen Bibelforscher ermutigt, den Kaiser dabei zu unterstützen, Jerusalem von den Türken zu befreien. Mein Vater wusste nichts von den Feldpostbriefen, den Namen der Einberufenen und Gefallenen im ersten Weltkrieg, die in den Wachtturm-Ausgaben veröffentlicht wurden.6 In diesem Punkt wurde er über die Rolle der Wachtturm-Gesellschaft im ersten Weltkrieg durch Weglassen von wichtigen Informationen getäuscht.

      Er konnte sich auch nicht kritisch mit dem Einfluss der Wachtturmführung bei dem Verbot der Zeugen Jehovas durch das dritte Reich auseinandersetzen. Zum Beispiel der Frage nachgehen, ob die Verweigerung des Hitlergrußes oder eher die Protesttelegramme, die durch die Leitung in Brooklyn veranlasst wurden, der wirkliche Grund für die verschärfte Verfolgung waren. Es könnte auch sein, dass die Haltung der IBV, der Internationalen Bibelforscher Vereinigung, zur Judenfrage der Grund für Hitlers Einschätzung war, dass es sich um eine barbarische Sekte handelt. Jedenfalls hatte die Resolution, die anlässlich ihres großen Kongresses am 25. Juni 1933 angenommen wurde, nicht die erhoffte Wirkung für die Zeugen Jehovas. Obwohl sie darin die Gemeinsamkeiten mit der neuen Regierung herausstellten:

       „Eine sorgfältige Prüfung unserer Bücher und Schriften wird deutlich zeigen, dass die hohen Ideale, die sich die nationale Regierung zum Ziele gesetzt hat und die sie propagiert, auch in unseren Veröffentlichungen dargelegt, gutgeheißen und besonders hervor gehoben werden.“ (…) „Anstatt, dass unsere Schriften und unsere Tätigkeit die Grundsätze der nationalen Regierung gefährden, werden in ihnen die hohen Ideale sehr unterstützt.“

      Ja sie versuchten sogar darzulegen, dass sie ebenfalls eine antijüdische Haltung hatten:

       „Das angloamerikanische Weltreich ist die größte und bedrückendste Herrschaft auf Erden. (…) Es sind die Handelsjuden des britisch-amerikanischen Weltreichs, die das Großgeschäft aufgebaut und benutzt haben als ein Mittel der Ausbeutung und der Bedrückung vieler Völker.“

      Im Begleitschreiben, mit dem die Resolution an Hitler übersandt wurde, machte man die „Geschäftsjuden und Katholiken“ für die angebliche Falschdarstellung der IBV verantwortlich.7

      Dass es bei dem Verbot nicht allein um die

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