Die Wachtturm-Wahrheit. Barbara Kohout

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Die Wachtturm-Wahrheit - Barbara Kohout

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sehr dankbar.

      Warum war das für mich so eine außergewöhnliche Tat? Als ich in diesem Buchladen stand, wirkten die Warnungen der vergangenen Jahrzehnte auf mich. Sie triggerten16 meine Angst vor der weltlichen Weisheit, die unter der Macht des Teufels steht.

      Mit Ratschlägen wie die nachfolgend zitierten wuchs ich auf, habe sie befolgt und vor allem auch an meine eigenen Kinder weitergegeben:

      „Manche Mütter achten nicht sonderlich darauf, daß die Kleidung ihrer Jungen luftig ist, denn sie wissen nicht, wie es sich auf das Leben eines Jungen auswirken kann, wenn er Kleidung trägt, die unten herum eng ist. Es ist so, wie ein Arzt sagte:, Durch eine Unterhose, die so eng anliegt, daß das Geschlechtsteil dauernd am Verschluß scheuert, wird die Aufmerksamkeit so sehr darauf gelenkt', daß es dem Kind zur Gewohnheit wird, sich daran zu schaffen zu machen. Hat es sich das einmal angewöhnt, dann ist es schwierig, es sich wieder abzugewöhnen. … diese üble Gewohnheit könnte bewirken, daß er das seelische Gleichgewicht und die Selbstbeherrschung verliert. Durch diese Gewohnheit wird die Aufmerksamkeit auf den Körper und dessen Begierden gelenkt, auch bringt sie einen auf unsaubere und unanständige Gedanken, und das kann zur bestimmten Zeit zu unrechten Handlungen führen — zu Homosexualität, Hurerei usw. Ein Arzt schrieb:, Diese Gewohnheit mag sich im späteren Leben schädlich auswirken, weil die geschlechtliche Reizbarkeit gesteigert und dadurch die Voraussetzung zur Unsittlichkeit geschaffen wird.’“17

      Dementsprechend voluminös war meine Kleidung, denn sinngemäß wurde das natürlich auch auf Mädchen übertragen. Als ich 20 Jahre alt war, kaufte mir mein heimlicher Verlobter für einen ganzen Wochenlohn ein wunderschönes Kleid. Es war figurbetonend geschnitten, aus cremefarbenem Bouclé.

      Ich werde die bewundernden Blicke nie vergessen, die ich in seiner Begleitung geerntet habe. Aber ich werde auch den Zorn meines Vaters nie vergessen, der es als Skandal empfand und der schließlich verhinderte, dass ich es je wieder tragen konnte.

      Die Rolle der Frau in dieser unerkannten Scharia war die einer demütig dienenden und gehorsamen Gehilfin des Ehemannes – ihres Hauptes. Ihre einzige Bestimmung war, für das Wohl der Familie zu sorgen und zu predigen, beziehungsweise den Menschen zu verkünden, dass sie bald vernichtet werden, falls sie sich nicht zu dieser Religion bekehren lassen. Sie hatte dabei stets einen stillen und milden Geist18 an den Tag zu legen. Das negative Vorbild der Königin Isebel wurde als abschreckendes Beispiel und Warnung vermittelt, nicht wie sie zu sein.19

      Die Zeitschrift EMMA, die für eine ganz andere Rolle der Frau eintritt, zu kaufen, wäre mir früher nicht möglich gewesen. Zu solch einer ketzerischen Tat hätte ich niemals den Mut aufgebracht.

      Inzwischen konnte ich mich mit der Hilfe meines Sohnes aus den Ketten meiner Höhlenbehausung befreien. Dafür stehe ich nun völlig isoliert in einer fremden Welt und versuche mit Herzklopfen herauszufinden, was an den früheren Warnungen vor diesem so bösen System wahr ist.

      Die Zeugen-Höhlenbewohner müssen dem Wachtturm vom 15. April 2012, Seite 12 gehorchen:

       „Was aber, wenn wir mit jemand, der ausgeschlossen werden musste, verwandt oder eng befreundet sind? Dann steht jetzt unsere Treue auf dem Prüfstand, und zwar, nicht gegenüber dieser Person, sondern gegenüber unserem Gott. Jehova schaut nun darauf, ob wir uns an sein Gebot halten, keinen Kontakt mehr mit jemandem zu haben, der ausgeschlossen ist.“

      Meine Familie hält sich treu an dieses Gebot. So hielt ich also meine erste EMMA Winter 2012 in der Hand, hatte Herzklopfen dabei und war dieser netten Verkäuferin dankbar dafür, dass sie das Titelbild, die Demonstration mutiger, barbusiger Frauen gegen Sextourismus, verdeckte. Ich bin sicher, dass sie meine Verlegenheit gespürt hat.

      Man kann eine durch Jahrzehnte geprägte Lebensführung nicht einfach mit einer Willensentscheidung über Bord werfen. Es ist eine Sache, rational mit dem Kopf zu wissen, dass etwas verkehrt gelaufen ist. Doch es ist eine ganz andere Sache, dieses Wissen auch in das Herz oder die unbewussten Steuerungsvorgänge dringen zu lassen.

      Obwohl es unglaublich einfach sein könnte, eine bedrückende Gemeinschaft zu verlassen, da es ja keine sichtbaren Ketten der Gefangenschaft gibt und alle Türen offen stehen, gelingt es nur, wenn man die Täuschung erkennen kann. Es ist wie mit dem Goldfisch im Glas. Er könnte leicht herausspringen, doch es wäre sein sicherer Tod. Solange ich unserer Leitung ohne zu zweifeln vertraute, war ich überzeugt, es wäre mein oder Mitgliedern meiner Familie sicherer Tod, wenn ich diese Organisation verlasse. Falls ich oder eines meiner Kinder nicht durch einen schlimmen Unfall, eine Krankheit, einen Blitzschlag oder eine andere Katastrophe sofort zu Tode käme, würde ich doch spätestens in Harmagedon in dem Blutbad und Feuersee enden.

      Offenbar ließen wir uns vor mehr als sechs Jahrzehnten von einem Schatten der Wirklichkeit, von einer Fata Morgana blenden. Sie sprach unser Gefühl und unsere natürlichen Sehnsüchte20 und Wünsche an, und wir gingen in die erste Falle der Seelenfänger – sie köderten uns, indem sie unser Vertrauen erschlichen.

      Unser Unterbewusstsein sortiert die Informationen. Wenn sie aus einer vertrauenswürdigen Quelle stammen, nehmen wir sie eher ungeprüft an. Wir vertrauen dem Überbringer der Botschaft. Sektenwerber sprechen das Gefühl an. Der Wunsch nach Anerkennung kann die klare Sicht trüben.

      Meine Eltern entwickelten ein grenzenloses Vertrauen in die Worte der Heiligen Schrift, so wie sie von dem Vertreter der Wachtturm Organisation übermittelt wurden.

      Sie wurden nicht skeptisch bei Erklärungen, die sich fundamental an die Buchstaben des Wortes hielten. Auch diese Methode war ausgezeichnet dazu geeignet, gegen Kritik von außen und gegen zweifelnde Fragen im eigenen Sinn immun zu machen.

      Der verwendete Bibeltext war aus 2. Timotheus, Kapitel 3, Vers 16

      „alle Schrift ist von Gott eingegeben …“.

      Man kann sagen, das ist gleich einem Dogma eine unverrückbare Aussage der Zeugen Jehovas. „Die Ganze Schrift ist von Gott inspiriert“, will sagen, dass alles, was in diesem Buch steht, gleichwertig heilig und unantastbar ist. Ich möchte es mit einem riesigen Berg Lego-Bausteine vergleichen, die alle so genormt sind, dass sie sich zu beliebigen Konstruktionen zusammensetzen lassen. Damit kann man die unterschiedlichsten Modelle bauen. Große und kleine Häuser, Straßen, Autos, Flugzeuge usw. Die Steine passen immer zusammen. Wobei die Bibel selbst aus unterschiedlichsten Literaturgattungen zusammengestellt ist. Es ist eine kleine Bibliothek, die zu einem Kanon zusammengefügt wurde. Da gibt es Geschichtsbücher wie die Chronika und Könige. Sie enthält Weisheitsliteratur wie die Sprüche, Prediger oder Hiob. Auch Lyrik kommt nicht zu kurz, man denke an das Hohe Lied oder die Psalmen. Jeder kennt die Evangelien, die Apostelbriefe, die Apokalyptischen Bücher wie Offenbarung oder Daniels Prophezeiung.

      Viele Redewendungen, die charakteristisch für die blumige Sprache der Semiten sind, kann man nur verstehen, wenn man die Bibel mit den Augen der damaligen Kultur und dem damaligen Wissen betrachtet. Eine wörtliche Übersetzung aus den ursprünglichen Schriften kann meilenweit von der eigentlichen Bedeutung entfernt sein. Gerade die blumige Sprache der Semiten, das Aramäische, enthält unzählige Redewendungen, die man nicht wörtlich übersetzen oder anwenden kann.21

      Sollte es da verwundern, dass ein Wort aus dem obigen Bibeltext nicht genau wiedergegeben ist? Es wird einfach ignoriert, dass dort steht, die Schrift sei „nützlich“. Mit der erlernten selektiven Wahrnehmung haben wir solche Worte ausgeblendet. Es wäre ja verwirrend gewesen, dass eine Aussage lediglich „nützlich“ ist und kein unumstößliches Gebot.

      Manipulation

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