Das Lied der Grammophonbäume. Frank Hebben

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Das Lied der Grammophonbäume - Frank Hebben

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starr vor Schreck. »Wehe, du fasst mich an!«

      Sitzt er dort, steht er vor mir? Lächelt er mich an? Seine dunklen Konturen verschwimmen, als er zu mir spricht: »Eine Welt ohne Schmerz, wäre das nicht herrlich, Alice?«

      »Lass mich in Frieden damit!«

      Ja – er lächelt; jetzt sehe ich es genau. Sein kaltes, blutleeres Lächeln. »Warum willst du es nicht verstehen, Alice? Keine Schmerzen zu haben, heißt, den Tod nicht länger zu fürchten.«

      »Hohles Gerede! Dein moralischer Standpunkt hat sich verschoben«, antworte ich fest. »Du bist fanatisch geworden, Paul.«

      Er hebt das Kinn, und sein Lächeln verblasst. »Rede nicht so altklug daher, ich muss es tun, ich muss! Wer könnte es denn sonst tun, außer mir?«

      Alles Schatten – über mir, unter mir, um mich herum. Ich zwinge mich zurück zur Tür. »Ich höre sie schreien, Paul, Tag und Nacht. Du folterst sie zu Tode dort unten!«

      Kommt er näher? Er kommt näher. »Wie sollte ich sonst lernen, den Schmerz zu begreifen?«

      »An hilflosen Opfern, Paul?«

      »An Alten, Schwachsinnigen«, brüllt er aus der Dunkelheit her. »Sie sterben für wahres Menschenheil.«

      Ich kann nicht verhindern, dass ich auflache. »Was? Das ist also deine Philosophie? Ich werde dem Ganzen ein Ende setzen. Verlass dich darauf!«

      »Komm zu mir, Alice, meine Liebe. Ich brauche dich; bitte, sei mir ein Halt.« Seine blutleeren Lippen, bleich im Schatten, seine Hand vorgestreckt.

      Doch ich habe die Tür schon erreicht und stoße sie auf, um zur Küche zu laufen.

      Oh Gott, diese Schreie!

      Diese grausigen Schreie im Kopf!

      *

      Ich muss völlig außer mir gewesen sein, als mich Jason Suther im Hausflur fand, – wild schreiend; erst eine Ohrfeige brachte mich zur Besinnung. Ich brach in seinen Armen zusammen.

      »Wem werden Sie ein Ende setzen, Misses Parry?«, fragte er mich. »Bitte, reden Sie mit mir!«

      Ich packte seinen Arm, zerrte ihn zur Wendeltreppe. »Es ist dort im Keller. Holen Sie Constable Johnson und Kerzen.«

      Wenig später stiegen wir die Stufen abwärts. Unten roch es nach Schimmel und Feuchtigkeit, der Geruch nahm zu, während wir dem Gang weiter folgten. Die Türe erschien im flackernden Licht.

      »Dieser Raum steht halb unter Wasser«, erklärte der Constable, nach vorne deutend. »Was sollen wir dort bloß finden?«

      Ich antwortete nicht. Stattdessen nahm ich Jason Suther die Fackel ab, die er von draußen mitgebracht hatte. Ich atmete tief durch, mein Geist war klar, dann öffnete ich die Tür und schaute in den Raum: Er war leer, sein Boden mit Schlammwasser bedeckt; ohne zu zögern, stieg ich drei Stufen abwärts und hinein.

      »Was tun Sie, Misses Parry?«, rief Constable Johnson. »Das Wasser reicht Ihnen bis zum Knie.«

      Da! Risse, die den Stein gesprengt hatten, auch an der Stelle, wo – Langsam hob ich meine Fackel an, um die Stirnwand abzuleuchten. »Sehen Sie das?«, fragte ich, ohne mich umzudrehen.

      »Wo?«, fragte Jason Suther; er schien nervös. »Von hier erkenne ich nichts.«

      »Warten Sie«, flüsterte ich und kämpfte mich durchs Wasser, zur Wand hinüber. Ich schloss die Augen und streckte die Hand vor. Meine Nägel griffen in den Spalt und lösten ein großes Stück Putz heraus, das glucksend im Wasser versank.

      Ein Keuchen, ein Stöhnen, jetzt konnten sie den eingemauerten Leichnam sehen:

      Es war Paul.

      Die Wahrheit kam endlich ans Licht.

      Seit diesem Tage sind meine Schreie verstummt. Parry Manor; man schrieb mir ins Gefängnis, es wurde abgerissen.

      Das Uhrwerk

      Der Schlüssel wog schwer in meiner Hand. Ich musterte seinen Schaft und den breiten Messingbart und mir fiel auf, dass feine Linien ins Metall geätzt worden waren.Im Dämmer meiner Schreibstube hatte ich diese Verzierung nicht weiter bemerkt,doch jetzt, wo ich bei Tag auf den Stufen zum herrschaftlichen Wohnsitz meines Onkels stand, schimmerten die Kreise und Arabesken wie gereinigtes Quecksilber. Eine kunstvolle Arbeit. Warum hatte sein Dienstbote mir den Schlüssel gebracht? Der beigelegte Brief – eigentlich war es nur ein verknickter Zettel gewesen – gab mir nur wenige Anhaltspunkte, weshalb Gustav von mir verlangte, ohne Umschweife zu seinem Landsitz hinauszufahren:

      Lieber Cornelius,Weimar, 23.9.1874

      es ist mir wirklich unangenehm, Dich mit einem dringlichen Aufruf behelligen zu müssen. Ich weiß, wie sehr Dich Deine medizinischen Studien zurzeit einspannen, aber widrige Umstände zwingen mich dazu, Dich unverzüglich zu mir zu bitten.

      Gustav Berling

      P.S.: Dreimal links, einmal rechts

      Das klang ernst. Anderntags hatte ich meinen Koffer gepackt, war am Flügeltor aus der Kutsche gestiegen und den Kiespfad zum Herrenhaus hinaufgeschlendert, das mein Onkel, wie ich sah, arg verkommen ließ: Welker Efeu überrankte die Balkone der Oberetage, die unteren Erkerfenster, früher bunt schillernde Glaskunstwerke, wirkten trübe und schmutzig; außerdem bemerkte ich ein Loch im Dach, es fehlten mehrere Tonschindeln – dort kam der Holzgiebel durch.

      Hatte Gustav etwa Schulden, dass er die Reparaturkosten nicht aufbringen konnte? Als Uhrmacher war er schon vor Langem in den Ruhestand getreten, mit einem stattlichen Vermögen, soweit mir bekannt. Merkwürdig, etwas stimmte hier nicht. Und was wollte er von mir?

      Wir beide hatten längere Zeit kein Wort miteinander gesprochen – nicht, weil wir im Streit auseinander gegangen wären, es lag an meiner Doktorarbeit, die mich seit Monaten zum Einsiedlertum verdammte; alles, was ich in den letzten Wochen zu Gesicht bekommen hatte, waren Kolben, Bunsenbrenner, Chemikalien gewesen. Die einzige lebende Seele in meiner Nähe brachte mir täglich das Essen, meine Haushälterin Elise; andere soziale Kontakte vernachlässigte ich sträflich. So gesehen kam mir dieser ungeplante Besuch doch sehr gelegen. Etwas Abstand zu meinen Forschungen konnte ich dringend gebrauchen – drei Tage Urlaub, sofern mich mein Onkel mit offenen Armen empfing. Mehr aber nicht.

      Die Fronttür war erwartungsgemäß abgeschlossen, und so schob ich den Messingschlüssel ins Schloss, drehte ihn zweimal im Uhrzeigersinn, bis ich mich der letzten Zeile des Briefes entsann und den Schlüssel wieder herauszog, um ihn erneut hineinzustecken. Dreimal links, einmal rechts – ein lautes, metallisches Knirschen drang zu mir durch, dann hörte ich einen Mechanismus anlaufen, offenbar Zahnräder, die ineinandergriffen, ehe die Türe wie von Geisterhand aufschwang. Vor mir befand sich die Eingangshalle, ein holzgetäfelter Boden, Vasen aus Porzellan, weiter hinten graue Gemälde im Schatten. Zögernd trat ich ein.

      *

      Drinnen war es totenstill, kein Ticken oder Klacken, kein Pendel, das schwang. Sofort fiel mir auf, dass die Standuhr fehlte – ein wahres Monstrum aus Gusseisen, mit barockem Gehäuse und einem Zifferblatt so groß wie ein Teller, Dutzende Zentner schwer. Warum hatte sie mein Onkel

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