Das Lied der Grammophonbäume. Frank Hebben

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Das Lied der Grammophonbäume - Frank Hebben

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regte ich mich eigentlich dermaßen auf? Gustav war alt und krank, ich sollte mehr Nachsicht mit ihm haben.

      Tief durchatmend betrat ich die kleine vom Gaslicht erleuchtete Kammer, in der mein Onkel seine größten Kunstwerke ausstellte: reich verzierte Pendulen nach französischem Vorbild und andere Uhren, die wundervolle, mechanische Figuren besaßen, Glockenschläger, Musiker und Hochzeitspärchen. Ihre Gelenke glänzten poliert im Schein der Lampen.

      Sie waren reizend – früher hatte ich oft mit ihnen gespielt – doch Ungewöhnliches erkannte ich nicht an ihnen. Ich überlegte kurz, widerstand dann aber der Versuchung, eine der teuren Schmuckuhren aufzuziehen und das Schauspiel ablaufen zu lassen; Gustav war stets fuchsteufelswild geworden, wenn er mich als Kind dabei erwischt hatte, und auch heute –

      Was war das? Eine leise, glockenhelle Melodie, wie aus einer Musikdose, drang an meine Ohren – Mozarts Requiem, unverkennbar. Ich suchte die Stelltische ab, doch keine der Uhren war in Gang gesetzt, weder der Zeiger noch der Spielmechanismus. Aufmerksam horchte ich nach dem Ursprung der Sequenz und hätte dabei fast die Figuren übersehen, welche nun anstelle der mir vertrauten in den Uhrgehäusen standen – starrende Dämonen, Skelette, Leichen, die begannen, sich mit schauerlichen Posen zu bewegen: Knochenhände wurden nach mir ausgestreckt, die Finger quietschten wie Scharniere; plötzlich ein tiefes, polterndes Dröhnen, als der Boden unter mir erbebte und eine Pendule vom Sockel stürzte, deren Schutzglas splitternd zerbrach.

      Ich schrie, war vom Anblick so erschrocken, dass ich zurück zum Türrahmen stolperte und aus der Kammer stürzte. Erst auf dem Flur kam ich wieder zur Besinnung. Herzklopfen. Ich keuchte in schweren Zügen. Und noch immer spielte Mozarts Requiem, wurde lauter, klanggewaltig wie ein Orchester. Die Türe war zugefallen.

      Fieberhaft versuchte ich diesen Vorfall zu deuten, war aber vom Schrecken so benebelt, dass es mir schwerfiel, einen klaren Gedanken zu fassen. Ein Spuk? Welche andere Erklärung konnte es sonst dafür geben? Aber das war völlig unmöglich! Es gab keine Nachwelt, das war reiner Aberglaube! Der Mensch besaß überhaupt keine Seele, alles war Körper und Fleisch, nur eine Maschine aus Muskeln und Sehnen, nicht mehr und nicht weniger. Ich war Forscher, so schnell ließ ich mich nicht ins Bockshorn jagen! Also zwang ich mich, erneut die Kammer zu betreten, doch zu meiner Verwirrung ließ sich die Tür nicht mehr öffnen. Mehrmals stemmte ich mich dagegen, bevor ich erschöpft aufgab.

      *

      In der abgedunkelten Werkstatt meines Onkels herrschte das übliche Chaos: Metallfedern, Klangwalzen, Schrauben, Werkzeuge und viele andere Einzelteile lagen scheinbar wahllos verstreut auf den Tischen und Drehbänken. Nur eine einzelne Gaslampe streute Licht in den Raum, pechschwarze Schatten in allen Ecken. Es dauerte eine Weile, bis sich meine Augen an das Zwielicht gewöhnten – erst danach entdeckte ich die Gestalt, welche an einer der Werkbänke hockte, den Rücken nach vorne gebeugt. Ihre Hände bewegten sich träge, offenbar setzte sie eine Schmuckuhr zusammen, aber es war nicht Gustav, der dort saß, dafür waren die Schultern zu schmal. Eine Frau, schoss es mir durch den Kopf und mein Eindruck bestätigte sich, während ich nähertrat. Sie trug ein weißes Rüschenkleid und ihre Arme waren entblößt, die Ärmel unzüchtig bis zum Oberarm hochgekrempelt.

      »Geehrtes Fräulein?«, sprach ich sie an, und sogleich drehte sich ihr Kopf zu mir um – nur der Kopf! – wie bei einer Spielzeugpuppe, deren Glieder lose waren; die Schultern blieben reglos. Ein eiskalter Schauer fuhr mir durch Mark und Bein, als ich in ihr Gesicht schaute: leichenblasse Haut, ein lidlos starrendes Auge, das zweite fehlte, ebenso der Unterkiefer!

      Ich wusste nicht, ob nach vorn oder zurück; dann fand ich mich, schweißnass und keuchend, in der Eingangshalle des Hauses wieder. Dort stand die Uhr – das riesige, gusseiserne Ungetüm, das vorhin noch verschwunden war, und schlug mir die Stunde, ihren schwarzen, alles verschlingenden Schatten drohend über mich werfend. Ich schrie um mein Leben, während sieben höllische Paukenschläge Wände und Decke erschütterten. Weiter, nur hinaus!

      Halb blind vor Entsetzen stieß ich die Tür des Rauchsalons auf, wollte zum Kamin weiterhetzen, als ich mit einer Geistergestalt zusammenprallte, die in langen wehenden Schleiern im Kreise tanzte. Noch ein Geist am Klavier, er spielte das Requiem– ich taumelte vorwärts, dann seitlich, riss die Gestalt mit zu Boden und sah gerade noch, wie sich beide Lehnsessel umdrehten: mein Onkel als Zwilling, auf linkem und rechtem Polster.

      *

      »Dein ganzes Haus ein Uhrwerk, das sieht dir ähnlich.« Ich prostete meinem Onkel zu. Wir tranken Branntwein, hatten es uns am Kamin gemütlich gemacht. Das Feuer prasselte fröhlich. »Da hast du mich aber schön drangekriegt.«

      »Richtig. Und gleich mehrfach, mein Junge.« Gustav schmunzelte in seinen Bart. »Ich spiele mit dem Gedanken, deine trüben Forscheraugen gegen gläserne austauschen.«

      »Bloß nicht!«, rief ich und lachte. »Besser, du hebst sie für deine Automatenfrau auf. Sie schaut ganz grässlich aus ohne.«

      »Das stimmt wohl«, erwiderte mein Onkel und stand auf, um seinem Doppelgänger erst das Hemd, dann den Brustkorb zu öffnen: Das Blech schwang auf und ich konnte das mechanische Innenleben des Maschinenmenschen betrachten.

      »Wie hast du die Standuhr verschwinden lassen?«

      »Durch eine Holzklappe. Die Hebebühne wird mit Dampfkraft betrieben.«

      »Du kannst sie beliebig herauf- und herunterfahren?«

      »Ganz recht. Bin ich froh, dieses Ungetüm endlich aus den Augen zu haben! Das schreckliche Ding bedrückt mich ... zählt meine Stunden bis zum Tod, lass dir das gesagt sein!«

      »Würde mich nicht verwundern, Onkel. Und wie konnten die anderen Apparate ans Laufen –«

      »Versteckte Bodeninduktoren, die durch Gewicht ausgelöst werden.«

      »Aha, ich verstehe.« Ein Schluck aus meinem Glas. »Ganz schön ausgebufft für einen alten Strolch wie dich.«

      »Werd bloß nicht unverschämt, Junge, sonst setzt es zwei hinter die Löffel!«

      »Und diese Scheibe da? Welche Funktion hat sie?«, fragte ich rasch. »Etwas in der Art habe ich noch nie zuvor gesehen.«

      Onkel Gustav wandte sich um; er nickte. »Das ist eine Wachsplatte, auf welcher ich meine kleine Krankenrede für dich aufgespielt habe. Meine neueste Erfindung. Durch ein verteufelt geniales Räderwerk mit Greifarm und mehrfacher Hemmung kann ich auf einzelne Segmente dieses Stimmenträgers zugreifen. Eigentlich wollte ich über zweihundert einzelne Sätze einprägen, aber es klappte nicht so richtig. Du kennst doch die Automate von Hoffmann oder diesen echten Schachtürken von … wie hieß der Bursche noch? Ich hatte mir jedenfalls in den Kopf gesetzt, so etwas Ähnliches nachzubauen.«

      »Aus welchem Grunde?«

      »Mein Junge, diese Frage kannst du dir mittlerweile doch selbst beantworten: Ich bin ein alter Mann, da fühlt man sich schnell einsam und kommt auf Ideen, seltsame Vorhaben, denen man nachgeht, oder vielleicht sollte ich besser sagen –«

      Ich winkte ab. »Danke, das reicht. Ich habe verstanden.«

      »Du solltest dich wirklich mehr um die Lebenden kümmern. Deine Forschungen machen dich zum Einsiedlerkrebs.«

      »Meine Worte, Gustav. Meine Worte.«

      Gustav lachte aufgeräumt, ehe er seinen Doppelgänger verschloss. »Führ ab und an eine hübsche Dame zum Essen aus. Und denk an deinen vergreisenden Onkel. Mein Bote

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