Der Flügelschlag des Zitronenfalters. Martin Scheil

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Der Flügelschlag des Zitronenfalters - Martin Scheil

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ganz kleinen Antritt gab, dass dann so gut wie alles möglich war.

       IV.

      Und so hätte es alles sein können.

      Aber so war es leider nicht.

      Denn Richard genannt Rick Pfeffer war nicht irgendein Schreiberling des Lokalteils beim Weser-Land-Blatt, er war der leitende Chefredakteur. Und er wurde dort auch nicht angeschrieen (obschon er es wohl oft verdient hätte). Nein, dort schickte sich niemand an, in einem ungebührenden Ton mit ihm zu reden. Der einzige Mensch, der sich traute, ihm gegenüber laut zu werden, war seine Frau. Und die auch nur dann, wenn er mal wieder erheblich einen über den Durst getrunken oder zu viel Geld verspielt hatte. Oder beides. Oder überhaupt zu Hause war.

      Aber seinen Skandal, den hatte er tatsächlich gefunden. Und er hatte ihn veröffentlicht. Und auch geknallt hatte es tatsächlich in Echt und in der Wirklichkeit. Oh ja, und wie es geknallt hatte.

      Mehr durch Zufall war Pfeffer auf ein 1944 verfasstes Kampfblatt gestoßen, und was er dort las, war erst einmal nichts, was ihn hätte erschüttern können. Blut und Boden, rassische Reinheit, die Judengefahr, die Bolschewikengefahr, die Kapitalistengefahr, und immer wieder der Endsieg, der wohl nun bald kommen solle. Ganz bestimmt sogar. Doch als er den Namen des Verfassers eines dieser Artikel las, da wurde ihm auf einmal ganz schwindelig. Sollte das etwa derselbe sein wie ...

      Ja, ja, der war es, und zwar genau der.

      Ohne sich mit langer Recherche aufzuhalten veröffentlichte Pfeffer besagten Artikel direkt am nächsten Tag im Weser-Land-Blatt auf der Titelseite und nannte an prominenter Stelle den Namen des Verfassers. Ohne Kürzel, keine Anführungszeichen, einfach der Klarname und dann Bummsdiewurst.

      Hans Stefan Seifriz, im Jahre 1944 schmale 16 Lenze zählend, war mittlerweile Bausenator der Hansestadt Bremen und hatte sich als SPD-Mitglied eher nicht den Ruf eines Alt-Nazis erworben. Er war ein geachteter und erfolgreicher Politiker. Nun, zumindest bis zu diesem Tag.

      Denn der hanseatische Senator und Verfasser des Artikels – und jaja: dieser Artikel war wohl schon ziemlich antisemitisch – waren tatsächlich ein und dieselbe Person. Schnell war seitens der Sozialdemokraten eine Klageschrift sowohl gegen Pfeffer als auch gegen das Weser-Land-Blatt verfasst, doch ebenso schnell bekannte sich Seifriz ehrlich und ausführlich zu seinen Jugendsünden. Recht so!

      Seifriz war im Januar 1933, drei Tage vor Hitlers Machtübernahme gerade sechs Jahre alt geworden, und so wie viele Kinder der sogenannten Flakhelfergeneration waren wohl auch ihm all die Phrasen zu Kopf gestiegen, die er sein ganzes kurzes Leben lang von Hitler, Goebbels, Göring und all den anderen mit ordentlich Blech an der Titte gehört hatte, als er kurz vor Kriegsende eben jenen Artikel schrieb, der ihm nun, über 30 Jahre und viele Verdienste um die noch junge Republik später zum Verhängnis werden sollte. Aber für Antisemitismus gibt und gab es nun mal kein Pardon, egal wann und egal von wem geäußert. Seifriz seinerseits hatte das schnell verstanden und war aus eigenen Stücken zurückgetreten. Wohl nicht zuletzt, um eine langwierige und sogenannte Schlammschlacht zu vermeiden. So hoffte er, Schaden von sich, seiner Partei, aber vor allem seiner Familie abwenden zu können. Armer Mann? Nun, alles holt einen irgendwann ein. Blut fließt dort, wo Turandot herrscht.

      Pfeffer aber hatte seine Sensation. Er hatte einen Senator gestürzt. Nein, besser noch: er hatte einen roten Senator gestürzt! Die Bremer SPD kam ob dieses Vorfalls wochenlang nicht aus den Schlagzeilen (natürlich am wenigsten aus denen, die Rick Pfeffer selbst verfasste), und immer mehr Gerüchte waren auf einmal an der Weser zu hören. Allesamt falsch, vielleicht erfunden, wie sich jedes mal schnell herausstellte, doch das war Pfeffer im Grunde gleichgültig. Er hatte an diesem Tag mit der Veröffentlichung seines Artikels der Wahrheit mit jenem kleinen Schubs auf die Sprünge geholfen, von dem er nun wusste, dass er ausreichte, um auch den größten Stein ins Rollen zu bringen.

      An diesem Abend betrank sich Rick Pfeffer ausgiebig und mit tiefsitzender Freude. Ihm war einfach nach Feiern zumute. Er war das gewesen. Er ganz allein. Er hatte das gemacht. Und alle sollten es wissen. Er besuchte dieses Mal ausnahmsweise keine der gewöhnlichen Kneipen, in welchen er sonst zu verkehren pflegte. Nein, diese Mal musste es dem Anlass entsprechend sein, und so zog er mit Pauken und Trompeten in die „Rote Katze“, ein, was nichts anderes war, als eines der größten Bordelle der Stadt. Im Suff im Puff. Na, das konnte ja nicht gutgehen ...

      Am nächsten Morgen erwachte Richard genannt Rick Pfeffer in einem ihm unbekannten Zimmer. Er schaute sich kurz um und stellte fest, dass es sich wohl um das Zimmer eines Hotels handeln musste. Dies hatte drei Gründe:

      Erstens: Es war nicht sein zu Hause. Zweitens: Die Einrichtung war Hotelstandard, also geschmacklos und eindimensional und Drittens stand auf dem Nachtschrank ein Telefon mit der Aufschrift „Waldhof Hotel“. Ja, es handelte sich um ein Hotel. Unverkennbar. Aber wie war er dorthin gekommen? Dann fiel es ihm langsam wieder ein, was allerdings auch daran gelegen haben dürfte, dass er aus der Roten Katze nicht nur einen gehörigen Kater mitgebracht hatte, sondern auch eine Frau, die ebenda noch selig neben ihm im Bett schlief.

      Panik!

      Doppelte Panik!

      Eieieieieiei ... eine fremde Frau! Nackt dazu. Ohmannohmannohmann. Nicht schon wieder! Nicht jetzt! Er betete im Stillen. „Oh Gott oh Gott, lieber Gott, bitte lass es eine Nutte sein!“ Dann traute er sich vorsichtig, die fremde Schönheit zu wecken. „Was ist denn Schätzchen, schon ausgeschlafen?“, ihre Stimme war unverkennbar alkoholgeschwängert und hatte unter unzähligen Zigaretten gelitten. Er dachte, sie klinge genauso, wie er sich gerade fühlte. Aber das war jetzt nicht wichtig. Wichtig war jetzt: „Sag mir nur eins.“ Pfeffers Ton war fast flehentlich. „Hatten wir was? Also ich meine ... haben wir ... miteinander geschlafen?“

      „Du meinst, ob wir gefickt haben? Ohhh ja, mein Lieber. Und wie!“

      Pfeffer wurde schlecht. Er musste sich spürbar zusammenreißen als er sagte:

      „Und ... also bitte versteh’ das jetzt nicht falsch, aber bist Du eine ... bist Du ...“

      „Was? Eine Nutte? Ja natürlich. Und Du warst ganz schön in Geberlaune gestern Abend.“

      Sie lachte, aber Pfeiffer fielen hundert Steine vom Herz.

      „Um Gottes Willen, Gott sei Dank! Ich dachte jetzt echt gerade ... also für einen kurzen Moment dachte ich, ich hätte meine Frau schon wieder betrogen.“

      „Hast Du das denn nicht?“, fragte sie hörbar irritiert.

      „Nein, nein“, entgegnete er direkt und war jetzt wieder ganz der alte, selbstsichere Rick Pfeffer, „so ist es schon in Ordnung. Ohne Liebe kein Betrug!“

      Sie stand nun langsam auf und begann, Ihre Kleidung im Zimmer zusammenzusuchen. „Sag’ mal“, fragte sie, „was Du da gestern Abend alles erzählt hast, stimmt das alles?“

      Schock! Ja, was hatte er denn erzählt? Er versuchte sich zu erinnern, doch es wollte ihm einfach nicht gelingen. Also folgerichtig:

      „Was habe ich denn erzählt?“

      Pfeffer war nun doch wieder ein wenig besorgt. Offenbar fehlten ihm vom vergangenen Abend wesentlich mehr Stunden, als er gedacht hatte. Alkoholinduzierte retrograde Amnesie nannten die Ärzte das.

      „Na ja, dass Du Chefredakteur bis?“

      Uff! Schwein gehabt!

      „Ja,

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