Gesundes Gift. Franz Kabelka

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Gesundes Gift - Franz Kabelka

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Sirenen mit jenen neuzeitlichen, die samstags zu Mittag heulten! Das musste sie sich nun wirklich nicht länger geben.

      Sie fragte sich, von welchen Risken und Chancen die Rede sein müsste, dass es mit ihr etwas zu tun hätte. Dass auch sie, Frieda Prohaska, sich daran aufbauen könnte. Flaute. Einöde. Kahlschlag. Das waren die Bilder, die ihr einfielen, wenn es ums Eingemachte ging. Um die nüchterne, die ernüchternde Zwischenbilanz, die frau mit knapp achtunddreißig zu ziehen hatte.

      Die einzig interessante Story der letzten Jahre war ihr vor fast vier Monaten entzogen worden. Unmittelbar nach Bernds Unfall. Weil man ihr nicht zutraute, in seine Fußstapfen treten zu können. Weil man ihr keine Chance geben wollte, die Sache alleine durchzuziehen. Und vielleicht hatten sie sogar recht gehabt damit.

      Vielleicht kannten Fillinger und Glenk sie ja besser als sie sich selbst …

      Jedenfalls musste sie sich seit Juli mit lächerlichen Brosamen über Wasser halten. Mit Aufträgen, die weder finanziell noch journalistisch gesehen etwas hergaben. Und den Wechsel zu einem anderen Magazin konnte sie auch vergessen. Sämtliche Bewerbungen waren ein Flop gewesen, meist hatte man sie nicht einmal zu einem persönlichen Gespräch eingeladen. Die Printbranche lag darnieder, so sah es aus. Da konnte Minister Steindlinger daherquatschen, was er wollte.

      Sie hockte unter einer Linde, deren Blätter allesamt abgefallen waren, und schlotete still vor sich hin. Es war föhnig, untypisch für einen Novembertag in Wien, sie schätzte die Temperatur auf knapp zwanzig Grad. Aus dem Vortragssaal drang kein Laut, und die hohen Mauern des Innenhofs schirmten den Verkehrslärm fast hundertprozentig ab.

      Dennoch hatte sie plötzlich dieses Rauschen in den Ohren.

      Auf einen Schlag, ohne jegliche Ankündigung, wie es nun einmal so seine Art war, schlug der alte Tinnitus wieder zu.

       *

      Sie steht am offenen Grab, umgeben von wenigen Verwandten und Bekannten. Es ist ein Sommertag, es ist heiß. Sie lässt die weiße Rose auf den mit Weihwasser vollgespritzten Sargdeckel fallen. Ein Fallen in Zeitlupe, in Superzeitlupe, bei der alle Geräusche sich verzerren. Das Gemurmel des Pfarrers, der sich trotz allem bereit erklärt hat, ein Begräbnis zu zelebrieren, zu einem Gequietsche entstellt, beendet erst durch eine einzige, entsetzliche Detonation: Die Rose hat eingeschlagen. Hat sich in den massiven Deckel mit dem schlichten Holzkreuz gebohrt und verwandelt sich jetzt, geführt von Geisterhand, in eine Dornenkrone.

      Eine Detonation, die es gar nicht geben kann, geben darf.

      Und die dennoch einen Tinnitus auslöst, der sie in alle Ewigkeit begleiten wird.

      Betäubt klappt sie den Sarg auf, betrachtet das Gesicht der Mutter mit den weit aufgerissenen Augen, mit den schrecklich bleichen Lippen, die vergeblich ein letztes Wort zu formulieren versuchen: Frieda.

      Klagend, flehend, im höchsten Diskant: Friiie-da, Friiie-da …

      Hör auf, bitte hör endlich auf! Vergib uns unsere Schuld, Mama, vergib wenigstens mir!

      Ja, ich hätte dich öfter besuchen müssen, dich nicht so alleine lassen dürfen. Hätte wissen müssen, wie dir zumute ist, nach all den Jahren ohne Mann, ohne Wärme. Du und ich, wir sitzen im selben Boot, hast du mehr als einmal gesagt. Aber ich habe dich nicht verstanden, habe deine Hilferufe nicht gehört. Du hast geschrien, wenn du schweigend in deinem Lehnstuhl gehockt bist, wenn du mich so müde angeschaut hast. Nicht anklagend, nur unendlich müde.

      Das Schnitzelmesser, es ist neben dir in der Wanne gelegen.

      Ein solides, altes Küchenmesser mit zwei Messingschrauben im Griff. Du hast dafür gesorgt, dass es immer gut geschliffen war. Das zäheste Hammelfleisch hat sich anstandslos damit zerlegen lassen, mit dem Schleifstein hast du umgehen können wie keine sonst. Das kommt davon, wenn man mit der Sense in der Hand auf die Welt gekommen ist – deine Worte! Früher hast du die Wiese hinterm Haus noch selbst gemäht. Alle paar Minuten hast du den grauen, speckigen Schleifstein hervorgezogen und das Sensenblatt damit nachgeschärft. Das Messer war ein Teil der Mitgift, ja, der halbe Hausrat wurde einem nachgeschmissen bei der Hochzeit dazumal, nicht irgendwelche teuren Reisegutscheine wie heutzutage. Deine Eltern haben es bei einem der letzten Messerschmiede in Zwettl anfertigen lassen. Weißt du noch, wie du mir das stolz erzählt hast?

      „Echte Qualitätsware“, hast du gesagt: „So etwas geht nie kaputt.“

      Und das ist sie auch nicht, obwohl die Klinge schon ganz schmal und dünn war vom vielen Schleifen, wie bei einem richtigen Fleischermesser. Wie viele Schnitzel du damit wohl geschnitten hast? Keines für Papa jedenfalls. Der war nach meiner Geburt schneller weg, als du schauen konntest.

      Ich weiß nur eins: Ich werde nie mehr ein Schnitzel essen können, Mama. Mein Lebtag nicht! Denn das Schnitzelmesser habe ich gefunden, finden müssen, das hast du gut arrangiert. Ein altes Schnitzelmesser unter deinem weißen, aufgeschwemmten Körper. Die Pulsadern glatt durchtrennt. Zwei saubere Schnitte. Kein Pfusch.

      Weil zu pfuschen, das ist dir zeitlebens gegen den Strich gegangen, Mama.

       E-Mail-Verkehr mit Thomas Mitterer, Wien

      Von: [email protected]

      Gesendet: Mittwoch, 20. Juni 2012 17 : 47

      An: [email protected]

      Betreff: deine fachliche Meinung

      Lieber Thomas,

      ich habe mich lange nicht mehr bei dir gemeldet, entschuldige! Aber wenn das auch nach einer Ausrede klingen mag: Mir ist es wirklich nicht so gut gegangen in letzter Zeit. Wenigstens hab ich jetzt beruflich etwas Spannendes am Laufen, was auch der Grund für dieses Mail ist.

      Ich hätte ein paar fachliche Fragen zu klären, die du als erfahrener Chemiker mir vermutlich aus dem Stand beantworten könntest. Sofern es deine Zeit am Ökologieinstitut erlaubt, würde ich mich gerne mit dir treffen, um ein kleines Interview zu machen. Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mir einen Termin geben könntest. Gerne komme ich auch zu dir an deine Arbeitsstelle, damit du keine Freizeit opfern musst. Es eilt allerdings ziemlich, wenn ich das so direkt sagen darf, denn ich stecke bereits mitten in den Recherchen.

      Nur so viel dazu: Es geht um Kritik an ayurvedischen Praktiken. Soweit ich weiß, bist du mit dem Thema vertraut, immerhin hast du zwei Jahre lang in Kalkutta gearbeitet. Konkret würde mich deine fachliche Meinung zu einer amerikanischen Studie interessieren, die ich dir ebenso beilege wie eine aktuelle Zurückweisung dieser Studie durch indische Ärzte. Vielleicht findest du Zeit, dir beides vor unserem Gespräch anzuschauen.

      Auf eine baldige Antwort freut sich

      deine alte Studienkollegin

      Frieda Prohaska

      Von: [email protected]

      Gesendet: Freitag, 22. Juni 2012 11 : 03

      An: [email protected]

      Betreff: Re: deine fachliche Meinung

      Liebe

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