Caffe della Vita. Daniel Morawek
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Doch das erschreckte Gaetano nicht. Wenn er hier geboren worden wäre, bestimmt wäre auch er bei einer der ehrenwerten Familien gelandet. Ehre und Grausamkeit, Stolz und Rache – das alles waren Dinge, die sehr nahe beieinanderliegen konnten. All diese Tugenden würden sich wunderbar in Sizilien studieren lassen. Zwar hatte auch er Werke von Rousseau gelesen, als er jung war. All diese philosophischen Theorien, die Menschen seien von Natur aus gut und so weiter – welch ein Schwachsinn. Natürlich war so etwas einfach zu schreiben, wenn man tagaus, tagein auf einem Chateau in der Schweiz saß und Rotwein schlürfte. Doch war es nicht auch Rousseau, der, bevor er größeren Ruhm erlangte, seine fünf leiblichen Sprösslinge in ein Heim für Findelkinder gegeben hatte, da er selbst mit seiner wichtigen Arbeit so wenig verdiente, dass er seine Frau losschickte, um den Lebensunterhalt zu verdienen, sodass diese keine Zeit mehr hatte, sich um die Kindererziehung zu kümmern? Ha, das konnte Rousseau seinen Kindern erzählen, dass er von Natur aus ein guter Mensch sei. Die Realität sah anders aus.
Gaetano jedenfalls erinnerte sich noch sehr gut daran, wie er das erste Mal einen Menschen tötete. Er war noch sehr jung, kaum einundzwanzig Jahre alt. Es war eine mondklare Nacht. Die Sterne funkelten im Meer und der Abzug klemmte, als er abdrücken wollte. Beinahe hätte sein Opfer fliehen können, doch er schlug den Mann schließlich mit dem Kolben seiner Pistole nieder. Hatte das aus ihm einen schlechteren Menschen gemacht, als er es zuvor gewesen war? Wohl kaum. Gaetano war sich sicher, schon immer genauso viel Schlechtes in sich getragen zu haben wie in diesem Moment. Schon als Kind hatte er sich immer nur um sich gekümmert, um seinen eigenen Vorteil. Irgendwann hatte ihm lediglich jemand einen Haufen Geld geboten, damit er einen anderen Menschen beseitigte – wahrscheinlich war das das Ventil, um all das Böse herauszulassen. Nein wirklich, in der Sekunde, als er das erste Mal einem anderen Mann, der bewusstlos am Boden lag, aus zwei Meter Entfernung eine Kugel durch den Kopf jagte, als er sich das erste Mal in seinem Leben richtig gehen ließ, sich selbst in eine Ausnahmesituation brachte und sich das erste Mal von allen gesellschaftlichen Konventionen (wie sie in normalen Situationen galten) löste – da wusste er, dass er die Essenz seines Menschseins erkannt hatte. In diesem extremen Moment konnte er nicht mehr leugnen, wie viel Böses er tief in sich trug. Die Frage war für ihn seit dieser Nacht also nicht mehr gewesen, wie die Menschen sich nach ihrer Geburt zum Bösen entwickelten, so wie bei dem alten Philosophen, nein, die Frage lautete nun für ihn, wie die Menschen es in ihrem Alltag anstellten, das Böse versteckt zu halten. In der sizilianischen Geschichte gab es massenhaft Beispiele, in denen das nicht funktioniert hatte, weil es keinen normalen Alltag gab. Das faszinierte ihn. Er würde wieder hierherkommen, wenn er seine Arbeit erledigt hatte, um die alten Tempelanlagen der Griechen, die Barockstädte im Süden (die ihre Entstehung dem großen Erdbeben von 1693 zu verdanken hatten, bei dem etliche Ortschaften komplett zerstört wurden) und die Kirchen der Normannen in Palermo zu besichtigen.
Er blickte auf seine Armbanduhr. Das Ziffernblatt war hell erleuchtet von der unbändigen Intensität der Sonnenstrahlen, sodass er sein Handgelenk ein paarmal drehen musste, bis er überhaupt die Zeit ablesen konnte. Es war kurz vor eins. In einer halben Stunde würde er sich mit seinem Auftraggeber treffen, doch was würde er ihm berichten?
Er betrat einen der kleinen Gemischtwarenläden auf der Hauptstraße, der Via Immacolata, und ging direkt auf den Inhaber zu, der hinter seiner mit Feuerzeugen, Postkarten, Heiligenbildern und Süßigkeiten vollgestellten Verkaufstheke stand.
»Entschuldigen Sie, ich suche nach dem Mann, der Predicatore genannt wird, Sie haben doch bestimmt schon mal von ihm gehört?«
Der Verkäufer rückte seine große Hornbrille zurecht und nickte dann.
»Diesen Wanderprediger meinen Sie? Klar, die ganze Stadt spricht von dem«, sagte er und blickte dann auf die blonde Frau, die in diesem Moment den Laden betrat.
»Und?«, fragte Gaetano.
»Und was?« Der Verkäufer starrte Carla an, als hätte er noch nie eine Frau gesehen.
»Na, ob Sie ihn schon irgendwo sichten konnten, wollte ich wissen«, hakte Gaetano nach.
Schließlich wandte der Verkäufer den Blick von der gut aussehenden Blondine ab, die gerade an einem der zahlreichen Regale, die in dem kleinen Verkaufsraum standen, einen Fotoapparat anschaute, und sah wieder zu Gaetano.
»Nein, gesehen hab ich ihn noch nie. Aber fragen Sie doch mal den Schwager meines Cousins, der kann Ihnen vielleicht weiterhelfen. Renato heißt er.«
»Ja, ja, schon gut.« Gaetano gab sich geschlagen. »Sagen Sie, haben Sie eigentlich auch Batterien?«
»Batterien? Letztes Regal, hinten rechts.«
Der Verkäufer machte eine Handbewegung, die Gaetano nicht zu deuten wusste, er hatte aber davon gelesen, dass die Sizilianer in den Jahrhunderten der Fremdherrschaft eine ausgeklügelte Zeichensprache entwickelt hatten, mit der es sogar möglich war, sich ganz ohne Worte zu verständigen. Nur für den Außenstehenden waren die Gesten meist nicht zu verstehen. Gaetano ging aber davon aus, dass sein Gegenüber eine abfällige Bewegung gemacht hatte, um seinen Unmut zum Ausdruck zu bringen, dass Gaetano nicht mehr Interesse an seinen Informationen aufgebracht hatte.
Gaetano drehte sich um und lief an Carla vorbei, die mit dem Fotoapparat in der Hand auf die Theke zusteuerte. Im Augenwinkel sah er, wie sie bezahlte, als er sich durch eine Plastikschale mit Batterien in den unterschiedlichsten Größen wühlte.
»Sagen Sie, können Sie mir Informationen über den sogenannten Predicatore geben?«, fragte Carla den Verkäufer.
Gaetano war sofort hellwach. Er stellte sich hinter eines der Regale in der Mitte des Raumes, von wo aus ihn der Verkäufer und Carla nicht sehen konnten und er in aller Ruhe zuhören konnte.
»Wissen Sie, ich bin eine Reporterin vom Cronaca Meridionale«, log Carla den Mann an.
»So ein Zufall, der junge Mann dort hinten hat mich eben dasselbe gefragt.« Er zeigte in die hintere Ecke des Raumes, in der jetzt niemand mehr zu sehen war. »Nanu, wo ist er denn hin? Na, so was!«
Carla sah sich um, auch sie konnte niemanden entdecken.
»Vielleicht hätten Sie sich mit ihm zusammentun können, ich kann Ihnen nämlich auch nicht weiterhelfen«, sagte der Verkäufer.
»So … Wissen Sie denn, warum der Mann den Predicatore sucht? Ist er auch von der Presse?« Sie steckte die Kompaktkamera und die vier Filme, die sie gekauft hatte, in ihre Handtasche.
»Von der Presse? Das weiß ich nicht. Mag sein, er hatte auch einen Fotoapparat bei sich«, antwortete der Verkäufer.
»Na gut, können Sie mir sagen, wo sich das Caffè della Vita befindet?«, fragte Carla.
»Das Vita? Da müssen Sie gerade die Straße hinunterlaufen, über die kleine Piazza rüber, durch die kleine Verbindungsstraße und dann auf die große Piazza, da ist es. Wissen Sie, wir haben hier im Ort zwei Piazze, aber natürlich sind die direkt nebeneinander.« Er nutzte seine Hände, um ihr die Ausmaße der einzelnen Piazze anschaulich zu machen.
»Vielen Dank«, sagte Carla und verließ das kleine Geschäft.