Der undankbare Kontinent?. Группа авторов
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Der undankbare Kontinent? - Группа авторов страница 10
Der Kolonisator kam und nahm, er füllte seine Taschen, er machte sich alle und alles zu Nutzen, er plünderte Ressourcen und Schätze, die ihm nicht gehörten. Er raubte dem kolonialisierten Menschen seine Persönlichkeit, seine Freiheit, sein Land, die Frucht seiner Arbeit.
Er hat genommen, aber bei allem gebotenen Respekt möchte ich sagen dürfen, dass er auch gegeben hat. Er baute Brücken, Straßen, Spitäler, Ambulanzen, Schulen. Er machte Brachland fruchtbar, er investierte Mühe, Arbeit und Wissen. Ich möchte hier sagen dürfen: Nicht alle Kolonisatoren waren Diebe und Ausbeuter.
Es gab unter ihnen schlechte Menschen, aber es gab auch Menschen guten Willens, Menschen, die glaubten, einen zivilisatorischen Auftrag zu erfüllen, Menschen, die glaubten, Gutes zu tun. Dabei irrten sie gewiss, aber einige von ihnen meinten es ehrlich. Sie glaubten, die Freiheit weiterzugeben, und schufen Entfremdung. Sie glaubten, die Ketten der Fortschrittsfeindlichkeit, des Aberglaubens, der Knechtschaft zu sprengen, und schmiedeten weit schwerere Ketten. Sie brachten eine weit schwerwiegendere Knechtschaft mit, eine, die das Denken und die Seelen unterjochte. Sie glaubten, Liebe zu schenken, und merkten nicht, dass sie Hass und Revolte säten.
Der Kolonialismus ist nicht für alle Schwierigkeiten im heutigen Afrika verantwortlich zu machen. Er ist nicht verantwortlich für blutige Kriege, die sich die Afrikaner untereinander liefern. Er ist nicht für Völkermorde verantwortlich. Er ist nicht für Diktatoren verantwortlich. Er ist nicht für Fanatismus und nicht für Korruption und Amtsmissbrauch verantwortlich. Er ist nicht verantwortlich für Verschwendung und Umweltverschmutzung.
Doch der Kolonialismus war ein großer Fehler, für den jene mit Verbitterung und Leid bezahlen sollten, die geglaubt hatten, alles zu geben, und nicht verstanden, warum man ihnen so feindselig begegnete.
Der Kolonialismus war ein großer Fehler, der im kolonialisierten Menschen die Selbstachtung zerstörte und in seinem Herzen jenen Selbsthass entstehen ließ, der unweigerlich zum Hass gegenüber anderen Menschen führt.
Der Kolonialismus war ein großer Fehler, aber dieser große Fehler wurde zum Embryo eines gemeinsamen Schicksals. Dies ist nun ein Gedanke, der mir besonders am Herzen liegt.
Der Kolonialismus war ein Fehler, der den Geschicken Europas und den Geschicken Afrikas eine neue Richtung gab und sie durchmischte. Und dieses gemeinsame Schicksal wurde mit dem Blut jener Afrikaner besiegelt, die in den europäischen Kriegen umkamen.
Und Frankreich vergisst nicht, dass afrikanisches Blut für Frankreichs Freiheit vergossen wurde.
Niemand kann vor dem Geschehenen die Augen verschließen.
Niemand kann diesen Fehler ungeschehen machen.
Niemand kann diesen Teil der Geschichte ungeschehen machen.
Zum Guten wie zum Schlechten, der Kolonialismus verwandelte beide, den afrikanischen und den europäischen Menschen.
Ihr jungen Afrikaner, ihr seid die Erben der uralten Traditionen Afrikas und ihr seid die Erben all dessen, was der Westen Afrika in Herz und Seele gelegt hat.
Ihr jungen Afrikaner, die europäische Gesellschaft war im Unrecht, wenn sie sich der Kultur eurer Vorfahren überlegen glaubte, aber heute und in Zukunft gehört die europäische Kultur auch euch.
Ihr jungen Afrikaner, lasst euch nicht verführen von der Idee der Reinheit, denn sie ist eine Krankheit, eine Krankheit des Verstandes, die zu den größten Gefahren in der Welt zählt.
Ihr jungen Afrikaner, trennt euch nicht gewaltsam von dem, was euch reicher macht, amputiert nicht einen Teil eurer selbst! Reinheit ist ein Gefängnis, Reinheit ist Intoleranz. Reinheit ist eine Wahnvorstellung, die zu Fanatismus führt.
Ihr jungen Afrikaner, ich möchte euch sagen, dass das Drama Afrikas nicht in seiner angeblichen Unterlegenheit in Kunst, Philosophie und Kultur besteht. Denn gerade in den Bereichen der Kunst, der Philosophie und der Kultur ging das Abendland bei Afrika in die Schule.
Die moderne Kunst verdankt Afrika fast alles. Afrikas Einfluss war im 20. Jahrhundert ein Beitrag zur Veränderung nicht nur der Vorstellungen von Schönheit, nicht nur des Verständnisses von Rhythmus, Musik und Tanz, sondern auch – wie Senghor sagt – der Art zu gehen oder zu lachen.
Mit anderen Worten, ich möchte der Jugend Afrikas sagen, dass das Drama Afrikas keineswegs daher rührt, dass die afrikanische Seele nicht aufnahmefähig wäre für Logik und Vernunft, denn der afrikanische Mensch ist genauso logisch und vernünftig wie der europäische Mensch.
Wenn ihr euch in die afrikanische Vorstellungswelt, die ihr von euren Vorfahren geerbt habt, vertieft, in die Sagen, Sprichwörter, Mythologien, Rituale, in all jene Formen, welche seit der Morgenröte der menschlichen Zeit von den Generationen Afrikas ausgestaltet und einander weitergegeben werden, dann findet ihr auch die Einfallskraft, um euch eine eigene Zukunft zu erschließen, eine spezifische Zukunft, die keiner anderen gleicht, wo ihr euch endlich frei fühlen werdet – ja, ihr jungen Afrikaner, frei dazu, ihr selbst zu sein und selbst zu entscheiden.
Ich bin gekommen, euch zu sagen, dass ihr euch der Werte der afrikanischen Kultur nicht zu schämen braucht, dass diese Werte euch nicht nach unten, sondern nach oben ziehen, dass sie ein Gegengift sind gegen Materialismus und Individualismus, die beide den modernen Menschen unterjochen, dass diese Werte das wertvollste Erbe sind, eine Antwort auf die Deshumanisierung und Verflachung der Welt.
Ich bin gekommen, euch zu sagen, dass der moderne Mensch, der sich mit der Natur wieder versöhnen will, sehr viel vom afrikanischen Menschen lernen kann, weil dieser seit Tausenden von Jahren in Symbiose mit der Natur lebt.
Ich bin gekommen euch zu sagen, dass dieser Riss zwischen den beiden Teilen eurer selbst zugleich eure größte Stärke und euer größter Schwachpunkt ist, je nachdem, ob ihr euch um die notwendige Synthese bemüht oder sie vernachlässigt.
Doch ich bin auch gekommen, euch zu sagen, dass in euch, ihr jungen Afrikaner, zwei Erbteile angelegt sind, zwei Weisheitsstränge, zwei Traditionen, die einander lange Zeit bekämpft haben: die afrikanische und die europäische.
Ich bin gekommen, euch zu sagen, dass dieser afrikanische und dieser europäische Teil eurer selbst eben eure zerrissene Identität bilden.
Ihr jungen Afrikaner, ich bin nicht gekommen, euch eine Lektion zu erteilen.
Ich bin nicht gekommen, euch zu maßregeln.
Ich bin indes gekommen, euch zu sagen, dass der Anteil Europas, der in euch wohnt, zwar die Frucht eines großen westlichen Sündenfalls im Zeichen des Hochmuts ist, dass jedoch dieser Anteil keinesfalls unwürdig ist.
Denn er ist der Ruf nach Freiheit, nach Emanzipation und Gerechtigkeit, nach Gleichheit von Frau und Mann.
Denn er ist der Ruf nach universeller Vernunft und universellem Bewusstsein.
Das Drama Afrikas besteht darin, dass der afrikanische Mensch nicht ausreichend in die Geschichte eingetreten ist. Der afrikanische Bauer, der seit Jahrtausenden im Gleichklang mit den Jahreszeiten und für ein Lebensideal – nämlich die harmonische Beziehung zur Natur – lebt, dieser afrikanische Bauer kennt nichts anderes als die ewige Wiederkehr der Zeit, die ihren Rhythmus durch die unendliche Wiederholung der ewig gleichen Gesten und ewig gleichen Worte erfährt.
In dieser Vorstellungswelt, wo alles immer wieder von neuem beginnt, ist kein Platz für das Abenteuer Mensch, für die Fortschrittsidee.