Die 8te Pforte. Akron Frey
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Als ich im November 1982 in mein Haus einzog, waren die mächtigen, dreissig Meter hohen Bäume noch zierliche vier-Meter-Sträucher, die nahe am Gebäude direkt an der Grenze zum Nachbarn standen. In den nächsten Monaten, in denen ich mich um die totale Restauration dieses kleinen Hexenhäuschens, eine Art „Neuschwanstein im Gartenhäuschenformat“, kümmerte, wurde ich ein paarmal von Nachbarn und Bekannten auf die Bäumchen angesprochen. Sie wollten wissen, ob ich diese nicht lieber fällen sollte, solange sie noch klein waren. Später würden sie bestimmt riesig werden und da sie vom Haus besehen auf der Süd/West-Seite wuchsen, nähmen sie auch viel Sonne und Licht weg. Doch für mich war das seinerzeit keine Option. Ich kann mich noch ganz gut erinnern, als ich damals, von Carlos Castaneda und den zaubernden Tolteken inspiriert, gross in die Welt hinausposaunte: „Was wäre das für ein erbärmliches Ego, das einfach zerstört, was ihm nicht passt und alles seinen persönlichen Befindlichkeiten unterordnet. Diese Bäume standen schon, bevor ich hier einzog, und deshalb hätten sie die älteren Rechte. Howgh – ich habe gesprochen!“
Langsam bekam ich ein Gefühl für die Abläufe, die sich um mich herum abspielten und nun wurde mir die ganze Sachlage allmählich klar: Es kann durchaus problematisch sein, wenn man tiefe Versprechungen, die man in die Welt setzt, später bricht, und dabei geht es auch nicht um einen Gott oder eine höhere Kraft, die einen bestraft, sondern um das eigene Gewissen, das einem diese plötzliche Haltungsänderung nicht verzeiht. Da kann man im Kopf lange darüber debattieren, die Bäume seien in der Zwischenzeit wirklich hoch bzw. der Schattenwurf auf das Haus mittlerweile inakzeptabel geworden, Tatsache bleibt: Ich habe das Allzeitgedächtnis meines tiefsten inneren Wesens irritiert, als ich die Bäume fällen liess, die ich zuvor dreissig Jahre lang „verteidigte“, und deshalb war alles, was daraus erfolgte, auch nur folgerichtig. Um im Bild zu bleiben: Es geht nicht darum, dass man seine Bäume nicht fällen darf noch geht es darum, dass man keine klaren Zielsetzungen formulieren soll, es geht hier einfach darum, aufzuzeigen, was im Inneren passieren kann, wenn man klare emotionale Massstäbe plötzlich umdreht und das Gegenteil vom ehemals Beschworenen anstrebt.
Zurück zur Geschichte: Die gute Stimmung war plötzlich weg, ich fühlte mich richtig niedergeschlagen und bedrückt und grübelte stundenlang vor mich hin, bis ich schliesslich zurück ins Büro schlich, um an den letzten Korrekturen weiterzuarbeiten und irgendwann dann zum Schluss des Buchs gelangte, dem „Echo aus einer anderen Welt“ (siehe Anfangszitat). Irgendwie war ich schon seit Stunden nicht mehr richtig bei der Sache und so war ich ziemlich erleichtert, dass ich kaum noch weitere Satzfehler oder andere Ungenauigkeiten fand und die Sache abschliessen konnte. Auf eine seltsame Weise zog es mich immer wieder nach draussen. Schnell eilte ich zurück in den Garten. Die gefällten Bäume waren inzwischen auf einem grossen Wagen zum Abtransport verstaut, die Werkzeuge sortiert und die vielen Holzstücke und Scherben aufgeräumt, und so eilte ich zu Lussia und half ihr beim Wischen der Strasse (der Garten mündet an eine abschüssige Einbahnstrasse in einem Wohnquartier).
Während ich also Staub und Dreck zusammenkehrte, kam gegen Abend Ceylan, mein türkischer Nachbar, von seiner täglichen Beschäftigung im nahegelegenen Schrebergarten zurück. Er sah die Holzspäne und die Unordnung auf der Strasse und fragte mich, was denn passiert sei, es wäre doch sehr erfreulich, dass diese hohen dunklen Bäume endlich entfernt worden sind. Ich wollte ihm die ganze Geschichte schildern; dazu bewegte ich mich mit ihm zusammen über die Strasse zum Garten hin, an den Zaun, wo ich ihm das Malheur meiner Marmorstatue genau erklärte, die in vielen Stücken zerschmettert im Teich und auf dem Gartenweg lag.
In diesem Moment begann sich die Szenerie farblich plötzlich zu verändern und als erstes fiel mir auf, dass der zerbrochene Amor im Wasser plötzlich einen perlmuttartigen Glanz ausstrahlte, ja, er schimmerte in einem weichen, an den Rändern verschwimmenden halluzinogenen Licht. Allmählich wurde der ganze Torso von innen her beleuchtet und fing an, in prächtigen, unwirklichen Farben zu illuminieren, und dann wurde ich von den verkopften Gedanken befallen, ob mir irgendjemand möglicherweise Haschisch, Ayuasca oder etwas Ähnliches in den Tee gemischt haben könnte, denn es war ein richtiges halluzinogenes Schauspiel, das sich vor mir ausbreitete …
Im selben Atemzug begann ich mich vom Boden zu erheben und während ich etwa in Manneshöhe in der Luft schwebte – ich war damit beschäftigt, mein Gewicht auszubalancieren, um nicht plötzlich auf die Erde zu fallen –, hörte ich unter mir das unruhige Stimmengewirr vieler Menschen, die um mich herum standen. In der gleichen Sekunde durchzuckte mich die Frage, was die Leute von mir wollten, denn die Realität war bei mir völlig ausgeblendet und stattdessen hatte ich das innere Empfinden, als ob sie nach einer Rede verlangten oder dass ich ihnen etwas Wichtiges sagen sollte.1
Ich dachte noch, das verschiebe ich besser auf morgen, denn ich war schon viel zu lange im Garten und hatte im Büro noch viel Arbeit vor mir, und das Nächste, was ich sah, war – wie schon eingangs geschildert – das Gesicht von Lussia, das über mir schwebte. Ihre Stimme klang wie durch Watte, als sie mir mitteilte, dass ich neben einer zerschmetterten Kniescheibe und ein paar Gesichtsbrüchen ein mittelschweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten hätte und soeben aus einem mehrtägigen Koma aufgewacht wäre.
Ich wollte ihr das erst gar nicht glauben, denn das betreffende Auto samt Unglücksfahrer wurde von meinem Bewusstsein (bis heute) verdrängt. In meiner von Morphium getränkten Trance war ich wie euphorisiert und erzählte den Besuchern und allen Menschen an meinem Bett von einem grossartigen Erlebnis, in dem ich mich am Steuer meines Motorboots rheinaufwärts bewegte und eben den Loreleyfelsen passierte, eine schöne, aber wohl dem Trauma geschuldete Reaktion, da die mich betreuende Ärztin auf den Namen Lore hörte.
Drei Jahre später konnte ich diese Vision aufschlüsseln. Ich hatte am 22. Januar 2015 im Dornier-Museum in Friedrichshafen einen Vortrag zum Thema „Was ist mit dem Empfinden jenseits des Denkens? Wo sind die Zugänge zu anderen Ebenen?“, und zwar im Hangar direkt unter dem Flügel einer D-1103, einem historischen Flugzeug, das in den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts einige Flüge über den Nordpol machte. Das Podium war einen Meter erhöht, und während ich mich locker ins Thema hineinimprovisierte und dabei auch über meinen Unfall vom März 2012 resümierte, hatte ich plötzlich ein Déjà-vu, eine Art „zukünftige Erinnerung“, und zwar aus der Sicht meines vergangenen Unfalls, als ich seinerzeit plötzlich in die Höhe schwebte und viele Stimmen unter mir wahrnahm, was aus der Sicht von damals eben der „zukünftigen“ Erinnerung unter dem Flügel dieser D-1103 entsprach.
Buch I Das Haus der Geister
„Die Suche nach dem Tod“