Mamsellenmord in der Friedrichstadt. Horst Bosetzky

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Mamsellenmord in der Friedrichstadt - Horst Bosetzky

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      Jolanthe lag in einer Lache geronnenen Blutes, und Werpel zählte mehr als ein Dutzend Einstichlöcher.

      »Das kann nur ein Irrer aus der Charité gewesen sein!«, rief er.

      Der dicke Tillack sah ihn bedeutungsschwer an. »Das sieht ganz nach Rotkappe aus.«

      »Wer ist Rotkappe?«, fragte Werpel.

      »Rotkappe ist ein Kobold«, belehrte ihn Tillack. »Er hat Krallen und rotglühende Augen und tötet Menschen, um mit deren Blut die Farbe seiner Kappe immer wieder zu erneuern. Vertreiben kann man ihn nur mit einem Bibelzitat.«

      Die Chance wollte sich der Constabler Krause nicht entgehen lassen. »In deine Hände befehle ich meinen Geist; du hast mich erlöst, Herr, du treuer Gott!«, rief er. »Der 31. Psalm.«

      Werpel fasste sich an den Kopf. »Krause, Sie bringen mich noch ins Irrenhaus!«

      »Da sollten Sie mal nachfragen, ob einer entwichen ist!«, sagte Tillack.

      Werpel nickte, denn in der Tat sah es ganz danach aus, als hätte ein Irrer im Blutrausch auf Jolanthe eingestochen. »Vielleicht hat er sie für eine Frau gehalten.«

      »Das wird es sein!«, rief Krause. »Vielleicht für die Mamsell vom Cigarrenhändler Krummrey?«

      »Kann sein«, sagte Tillack, der die Dame kannte. »Die hat wirklich Ähnlichkeit mit einem rosigen Schweinchen und heißt auch Jolanthe.«

      »Jetzt reicht es aber!«, rief Werpel, konnte jedoch nicht umhin sich vorzunehmen, zuerst beim Cigarrenhändler am Rosenthaler Thor und dann in der Charité gezielte Nachforschungen anzustellen.

      »Was soll mit meiner Jolanthe werden?«, fragte Tillack, als sich Werpel verabschieden wollte.

      »Soll ich vielleicht den Leichen-Commissarius holen lassen«, fragte Werpel, »dass sie anschließend ein Staatsbegräbnis kriegt?«

      »Machen Se Wurscht aus ihr, Herr Tillack!«, sagte Krause lachend.

      Tillack brummte etwas in seinen Bart, was ihm, hätte er es laut geäußert, eine Anzeige wegen Beamtenbeleidigung eingebracht hätte, und führte Werpel und seinen Constabler zur Straße zurück. »Gehen Sie mit Gott, dann gehen Sie mit keinem Spitzbuben.«

      »Das wäre nur der Fall, wenn Sie mitkommen würden«, murmelte Werpel, der genau wusste, dass Tillack schon so manchen Menschen übers Ohr gehauen hatte.

      Ihre erste Station war also der Tabakwarenhändler Krummrey, den sie baten, seine Hauswirtschafterin zwecks Befragung nach vorn ins Ladenlocal zu holen. Die Mamsell Jolanthe Junge erschien auch sogleich, konnte sich aber nicht erinnern, dass sie in letzter Zeit von einem Kerl lüstern angeguckt oder gar bedrängt worden wäre.

      »Da war nüscht mehr, Herr Kumsargus, seit ick ma dem Bölzke ’n paar jescheuert habe.«

      »Wer ist das, Bölzke?«

      »Eena von die Eckensteha.«

      »Nun gut.« Werpel machte sich eine Notiz und verzichtete auf irgendwelche Nachfragen. Sich in der Charité umzuhören erschien ihm erfolgversprechender.

      In einem Flügel der Alten Charité, erbaut von 1785 bis 1800, war die größte Abteilung für Irre und Wahnwitzige im deutschen Raum entstanden, und Ernst Horn war als erster Professor für Psychiatrie in Deutschland berufen worden. Obwohl Horn der Ansicht gewesen war, dass Geisteskrankheiten körperliche Leiden waren, hatte er versucht, die Kranken mit Zwangsmaßnahmen wie Drehstuhl, Drehbrett und Tretmühle zu therapieren, aber auch dadurch, dass er sie für längere Zeit in einem Sack unterbrachte und damit isolierte. Seit 1828 leitete Karl Wilhelm Ideler unter weitgehender Übernahme dieser Behandlungsprinzipien die Irren-, Deliranten-, Krampfabteilung der Charité. 1834 war man in die Neue Charité umgezogen, ohne dass sich die Bedingungen verbessert hätten.

      »Wer hier landet, kann jede Hoffnung fahrenlassen«, sagte Werpel, als sie das Gebäude betraten.

      »Denn vadufte ick mal lieba!«, rief Krause. »Sie brauchen mir ja nich mehr.«

      Werpel ließ ihn ziehen. Die Gefahr, sich mit ihm bei Professor Ideler zu blamieren, erschien ihm zu groß.

      Karl Wilhelm Ideler, der aus Bentwisch bei Wittenberge stammte, war mit seinem Grundriss der Seelenheilkunde, erschienen 1835, bekannt geworden. Werpel ließ sich von einem Assistenten bei ihm melden. Nach einer Viertelstunde wurde er vorgelassen.

      »Was führt Sie zu mir?«, fragte Ideler.

      Werpel fühlte sich gar nicht wohl dabei, wie ihn der Irrenarzt musterte, und redete deswegen ein wenig wirr.

      »Ja, wegen der Rotkappe … Die soll die Jolanthe abgestochen haben. Also die Sau vom Tillack. Das soll ein Kobold gewesen sein. Nicht der Tillack, das ist ein Grundbesitzer, sondern der Mann, der seine Sau …«

      »Machen Sie sich einmal frei!«, befahl ihm der Professor.

      »Ich bin kein Irrer«, rief Werpel, »ich bin Criminal-Commissarius!«

      »Ja, ja, gestern war einer hier, der hat sich als Kronprinz Wilhelm ausgegeben«, sagte der Assistent.

      Es dauerte Minuten, bis das Missverständnis ausgeräumt worden war und Werpel endlich fragen konnte, ob man einen Insassen vermisse, dem zuzutrauen sei, Tiere, insbesondere Schweine, abstechen zu wollen. »Vielleicht um sich in einen Blutrausch zu versetzen.«

      »Nein, von unseren Kranken ist keiner entwichen«, antwortete Ideler. »Aber derjenige, von dem Sie berichten, dass er auf das Schwein eingestochen hat, wird alsbald bei uns eingeliefert werden. Denn unser Gott bestraft alle Sünden, und sei es dadurch, dass er einen Menschen irre werden lässt und damit auf die unterste Stufe des Menschseins setzt.«

      Als Werpel die Charité verließ, war er noch immer etwas verstört.

      Bäume gab es nur wenige auf Berlins Straßen und Plätzen, da aber, wo sie zu finden waren, Unter den Linden zum Beispiel, im Thiergarten oder an den Ufern der Spree, erfreuten sie das Auge mit ihrem frischen hellen Grün. In so manchem Hof blühten die Apfel-, Kirsch- und Birnbäume, und wenn die Fenster offen standen, um die reine Frühlingsluft in die muffigen Zimmer zu lassen, hörte Gontard die Kinder singen:

       Der Mai ist gekommen

       Die Bäume schlagen aus,

       Da bleibe, wer Lust hat,

       Mit Sorgen zu Haus!

       Wie die Wolken wandern

       Am himmlischen Zelt,

       So steht auch mir der Sinn

       In die weite, weite Welt.

      Das Lied war neu, die Musik stammte von Justus Wilhelm Lyra, der Text von Emanuel Geibel, dem Liebling des Königs. Trotzdem hörte Gontard es gern, und die letzte Zeile ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Auch ihm stand der Sinn nach der weiten, weiten Welt, vor allem nach Amerika. Immer wieder trug er sich mit dem Gedanken auszuwandern, dem engstirnigen Preußen zu entfliehen, wo alles demokratische

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