Mamsellenmord in der Friedrichstadt. Horst Bosetzky
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Det beste Leben hab ick doch, ick kann mir nich beklagen,
pfeift ooch der Wind durchs Ärmelloch, det will ick schon verdragen.
Det Morgens, wenn mir hungern tut, ess ick ne Butterstulle,
dazu schmeckt mir der Kümmel jut aus meine volle Pulle.
Glaßbrenners Vorbild, den Eckensteher Nante, eigentlich Ferdinand Strumpf, geboren 1803, hatte Bölzke gut gekannt, waren sie sich doch an der Ecke Königs- und Neue Friedrichstraße oft über den Weg gelaufen und hatten sich in der nahen Destillation Eulner einen genehmigt.
In der Brüderstraße gelang es Bölzke, einem Bäckerjungen ein fast verbranntes Weißbrot abzuluchsen, das seinen gröbsten Hunger stillte, aber es gelüstete ihn auch nach etwas Fleischlichem, und so pfiff er einer dicken Mamsell hinterher, die mit einem großen Korb in der Hand dem Markt zustrebte.
Kaum hatte er seinen Pfiff ausgestoßen, da riss ein Kumpan, der dicht hinter ihm ging, heftig an seinem Ärmel. »Pass uff, Albert, dette dir nich verdächtig machst!«
»Wieso’n dit?«
»Weil se letzte Nacht ’ne Köchin umjebracht ham, abjeschlachtet wie dem Tillack sein Schwein.«
Bölzke grinste. »Ach, du meinst die Amalia Matschke bei dem Schreiberling da im Kella, dem Alexis. Det war ick doch selba, und nu versuche ick, den Criminal-Commissarius zu täuschen.«
Heinrich machte ein verdutztes Gesicht. »Vasteh ick nich.«
»Na Mensch, is doch klar wie Kloßbrühe: Der Werpel, der denkt doch nu, der Bölzke, der kann et nich jewesen sein, sonst wära nich so dämlich und pfeift die Weiba weita hintaher.«
»Ick bewundere dir, Albert! Wat du so allet an Jeist im Koppe hast! Aba wenn de eenen jesoffen hast, biste wie’n Tier.«
Bölzke hörte das gerne und setzte seine Runde fort. Er kam sich dabei vor wie ein Fuchs, denn wie der durch Wald und Feld, so streunte er durch Berlin, immer auf der Suche nach einer Beute - und sei sie noch so klein. Fernerhin genoss er das Berliner Straßenleben wie ein fortlaufendes Theaterstück.
In der Poststraße streifte ein Schornsteinfeger ein Dienstmädchen, das mit einem blau-weißen Umhang unterwegs war, und das keifte: »Ochse, mach er mich nicht weiß, er oller Müllergeselle!«
Bölzke sah auf dem Werderschen Markt Dr. Kußmaul mit dem reichen Tuchhändler Damaschke stehen.
»Wat würden Se mir raten, Herr Dokta? Ick bin 69, aber bei bester Gesundheit, habe Vermögen und will ma ’ne junge Hübsche von 19 anlachen. Glauben Se, ick könnt der so janz simpel beibringen, ick wär erst 49?«
Dr. Kußmaul lachte. »Aber nicht doch, tun Sie genau das Gegenteil! Sie wird viel eher auf Ihr Angebot eingehen, wenn Sie ihr sagen, dass Sie schon 79 sind.«
Bölzkes Stimmung wurde allmählich besser und erreichte ihren Höhepunkt, als ihm auf der Friedrichstraße das Fuhrwerk eines Speditionsgeschäftes entgegenkam und er entdeckte, dass sich sein alter Kumpan Georg oben zwischen den Colli versteckt hatte und auf jemanden wartete, dem er ein Paket in die fangbereiten Arme werfen konnte.
»Orje, hier bin ick, schmeiß wat runta!«
Und ehe der Kutscher vorn auf dem Bock reagieren konnte, hatte Georg ein Paket gegriffen und in Richtung Bölzke geworfen. Der hatte keine Mühe, es zu fangen, und beide flüchteten mit ihrer Beute die Behrenstraße hinunter, um sich im Thiergarten vor ihrem Verfolger in Sicherheit zu bringen, was ihnen auch gelang. Als sie das Paket öffneten, jubelten sie, denn es enthielt handgedrehte Cigarren aus Vierraden. Die verscherbelten sie alsdann bei verschiedenen Händlern, die nicht lange nach der Herkunft einer Ware fragten, und machten sich einen schönen Tag, indem sie erst einmal zur Fischerstraße gingen und im »Nußbaum« aßen. Es hätte auch für ein vornehmeres Gasthaus gereicht, aber sie hatten Angst, dass ihnen dort der Viertel-Commissarius auf den Zahn fühlen würde. Angetrunken, aber immer noch aufrecht liefen sie durch die Residenzstadt und suchten nach einem Plätzchen, wo sie ein wenig Ruhe finden konnten.
»Am besten, du kommst bei mir mit inne Jartenstraße«, lallte Orje.
Sie setzten sich in Bewegung, und unterwegs stieß auch noch Heinrich zu ihnen. Zu dritt zogen sie weiter, kamen aber nur bis zum Hamburger Thor, wo ihnen ein Trupp lärmender und rauchender Arbeitsmänner den Weg versperrte. Die hatten sich mit dem Wachhabenden angelegt, dem Grenadier Bienert, der vor dem Wachtgebäude stand und nach dem Rechten sah. Er nahm einen der Arbeitsmänner ins Visier.
»Sie da, det Roochen is an diese Stelle tunlichst zu unterlassen!«
Der lachte nur. »Dumme Bemerkungen sind ooch zu unterlassen.«
Daraufhin packte Bienert ihn und wollte ihn in die Wache schleppen, doch sofort löste sich ein Arbeitsmann aus der Menge, um seinem Kollegen beizuspringen. Er packte Bienert an der Brust und suchte, ihn zu Boden zu stoßen. Augenblicklich kam eine ganze Mannschaft aus dem Wachtgebäude, um die beiden Aufsässigen zu packen und in Arrest zu nehmen. Als man sie in die Wachstube gebracht hatte, forderten die Arbeitsmänner draußen deren Freilassung, und als die Sprechchöre keinen Erfolg hatten, stieß man Drohungen aus und bewarf das Wachthaus mit Steinen. Da konnten Bölzke und seine Freunde nicht anders, als mitzumachen. Fensterscheiben gingen zu Bruch. Die Wachmannschaft stürzte heraus, um die Menge zu attackieren. Gut gezielte Würfe trafen sie an Helm und Körper. Derart herausgefordert, zog einer seinen Infanteriesäbel, um sich damit Respekt zu verschaffen. Schläge mit der flachen Seite auf den Kopf waren dazu ein bewährtes Mittel. Als einen der Ersten traf es Albert Bölzke.
Heinrich sah, wie er leblos auf dem Pflaster liegen blieb, und murmelte: »Det is nu die Strafe, detta die Matschke abjestochen und uffgeschlitzt hat.«
Vier
Der Criminal-Commissarius Waldemar Werpel lebte nach der Devise »Eile mit Weile«, und so ließ er die Suche nach dem Mörder der Mamsell Amalia Matschke langsam angehen. Bevor er mit den Gästen sprach, die am Mordabend im Hause Wilhelmstraße 97 mit Willibald Alexis das Erscheinen des Romans Die Hosen des Herrn von Bredow gefeiert hatten, wollte er hören, welche Erkenntnisse der Stadtphysicus beim Betrachten der Leiche gewonnen hatte. Zu diesem Zweck hatte er sich in die Charité zu begeben.
Das erste Berliner Leichenschauhaus für die Stadtphysici, wie die Rechtsmediciner zu dieser Zeit hießen, war 1811 errichtet worden. Wegen der unzumutbaren Bedingungen dort wurden ab 1839 Räume des Leichen- und Sektionshauses der Charité für diesen Zweck genutzt. 1833 war an der Friedrich-Wilhelms-Universität die Praktische Unterrichtsanstalt für die Staatsarzneikunde gegründet worden, in der die Gerichtliche Medicin und die Medicinalpolizei zusammengefasst waren. Erster Lehrstuhlinhaber war der gerichtliche Stadtphysicus Karl Wilhelm Ulrich Wagner, der die Staatsarzneikunde auch als akademisches Fach etablierte.
Wagner war am 21. Januar 1793 in Braunschweig geboren worden. Er hatte 1813 in Göttingen die medicinische Doktorwürde erlangt und war danach in den braunschweigischen Militärdienst eingetreten, wo er 1815 nach der Schlacht bei Waterloo zum Generalstabsarzt aufgestiegen war. 1819 hatte er sich in Berlin habilitiert, um ein Jahr später außerordentlicher Professor der Staatsarzneikunde zu werden. 1826 hatte man ihn zum ordentlichen Professor ernannt, 1828 war er Criminal- und 1829 Stadtphysicus geworden.
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