Mamsellenmord in der Friedrichstadt. Horst Bosetzky
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»Am 28. Juni des Jahres 1815 haben wir beim Dorfe Plancenoit gestanden«, erklärte Werpel dem Stadtphysicus und legte dessen Briefbeschwerer in die Mitte der Schreibunterlage. »Das hier ist das kleine Städtchen Waterloo in der belgischen Provinz Brabant, fünfzehn Kilometer südöstlich von Brüssel. Folgt man in südlicher Richtung der Straße nach Charleroi, so trifft man wenige Kilometer von Waterloo entfernt auf zwei Höhenrücken.« Er markierte sie mit einem Brieföffner und einem Lineal.
»Hier ist es gewesen, hier hat die Schlacht getobt. Ach ja, wie der General Wellington sagte: Ich wollte, es wäre Nacht oder die Preußen kämen.«
Auch Prof. Wagner konnte sich lebhaft an alles erinnern und berichtete, wie seine Braunschweiger in ihren schwarzen Uniformen die britische berittene Artillerie unter Captain Mercer für Franzosen gehalten und beschossen hätten. »Die haben nun mit ihrer Batterie das Feuer erwidert, und was meinen Sie, Werpel, was ich für Arbeit damit hatte, meine Leute wieder zusammenzuflicken!
Schließlich haben wir einen Reiter zu Mercer geschickt, und der hat dann in einer merkwürdigen Mischung aus breitem braunschweigischem Platt und ein paar Brocken der englischen Sprache die Anhöhe hinaufgerufen: ›Ah, mine Gott, mine Gott! Vot it is you doos, sare? Dat is your friends, de Proosiens; and you kill them! Ah, mine Gott, mine Gott! Vill you no stop, sare?‹«
Nachdem sie diese und andere Episoden ausführlich durchgegangen waren, kamen sie endlich auf Amalia Matschke zu sprechen.
»Ich habe zwölf Einstiche in den Rumpf gezählt«, sagte der Stadtphysicus. »Und dann ist ihr auch noch der Leib aufgeschlitzt worden.«
Werpel schüttelte sich. »Das erinnert mich an das Schwein vom Tillack.«
Wagner schloss die Augen. »Mich eher an die Schlachtfelder, auf denen ich …«
»Wer kann denn so was tun?«, fragte Werpel.
»Die Kaiser, Könige und Feldherren.«
»Nein, ich meine das Schwein vom Tillack und den Mord bei Willibald Alexis.«
Der Stadtphysicus musste nicht lange nachdenken.
»Nur einer aus dem Irrenhaus.«
»Da ist aber keiner entwichen. Danach habe ich mich bereits erkundigt«, sagte Werpel.
»Dann ist er bis jetzt noch nicht eingesperrt.«
Werpel nickte. »Genau das habe ich mir auch gedacht. Und meinen Sie, Herr Professor, dass der Mörder bei dem Schwein von Tillack nur geübt hat?«
»Das kann man zweifelsohne sagen. In so einem Kerl schießt es plötzlich hoch, und er stürzt sich auf alles, was lebendig ist und sich schlecht wehren kann.«
»Und woran kann man einen solchen Menschen erkennen?«, wollte Werpel wissen.
»Man kann ihn nur daran erkennen, dass man ihn an nichts erkennen kann. Das ist gerade das Schlimme. Es wird ein Mensch sein, der aussieht wie Sie und ich. Er ist im alltäglichen Leben durch und durch gewöhnlich, vermute ich, aber etwas zwingt ihn dazu, einen anderen zu töten, wenn sich eine günstige Gelegenheit bietet.«
»Der Tillack meint, dass es bei seiner Jolanthe eine Rotkappe gewesen ist«, sagte Werpel.
»Eine was?«, fragte der Stadtphysicus.
»Ein Wesen, das Krallen hat und rotglühende Augen und Menschen tötet, um mit deren Blut die Farbe seiner Kappe immer wieder zu erneuern. Vertreiben kann man es mit einem Bibelzitat.«
Wagner war zu sehr Naturwissenschaftler, um bei solchen Aussagen nicht die Augen zu verdrehen. »Ich meine keinen Kobold oder bösen Geist, sondern eine teuflische Kraft, die in der Psyche eines kranken Menschen steckt und ihn zu Grausamkeiten treibt.«
»Einerlei«, sagte Werpel. »Es ist jedenfalls blutdürstig.«
»Also suchen Sie mit aller Kraft den Mann, der von ihr befallen ist!«, rief der Stadtphysicus. »Damit mich der Leichen-Commissarius nicht zu weiteren aufgeschlitzten Leibern rufen muss.«
Werpel schnappte sich also den Constabler Krause, um mit ihm gemeinsam zur Wilhelmstraße 97 zu laufen.
»Warum mussten Se denn jrade mir nehm?«, fragte Krause. »Imma bin ick der Dumme.«
Werpel schmunzelte. »Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung.«
Krause strahlte. »Ach so, ick soll befördert wer’n. Na, denn isset wat anderet.«
Bei Willibald Alexis in der Wilhelmstraße 97 wollte sich Werpel noch einmal den Tatort ansehen und ließ sich und den Constabler von der Gattin des Schriftstellers zunächst in den Keller führen.
»Hier habe ich die arme Mamsell gefunden und bin schreiend nach oben gelaufen, wo mein Mann und seine Gäste plaudernd beisammensaßen«, berichtete Laetitia Perceval.
Werpel wartete auf eine Intuition. »War die Matschke schon lange bei Ihnen?«
»Nein, sie war nur an diesem Abend zur Aushilfe im Haus, weil mein Mädchen allein nicht alles schaffen konnte.«
Werpel trug diese Aussage in seine Kladde ein, weil sie ihm irgendwie bedeutsam erschien. »Es können also nicht allzu viele Menschen gewusst haben, dass sie bei Ihnen war?«
»Eigentlich nur ihre Mutter und ihre Schwester.«
»Die werden wir auch noch anhören, danke.« Werpel fiel noch etwas ein. »Ist denn die Mamsell von sich aus in den Keller gegangen, oder haben Sie sie geschickt?«
Laetitia Perceval versuchte sich zu erinnern. »Nein, ich habe sie nicht geschickt, sie ist wohl in den Keller gegangen, um neuen Wein zu holen.«
»Und wann war das ungefähr?«
»Es muss so zwischen zehn und halb elf gewesen sein.«
»Und von der Straße aus hatte jedermann Zugang zum Keller?«
»Von der Straße aus kommt man nicht in den Keller«, erklärte Laetitia Perceval, »aber vom Hof her, und auf den gelangt man unbemerkt von der Leipziger Straße.«
Werpel seufzte. »Es hätte demnach jeder in den Keller eindringen können.«
»Ick weeß nich, wat Sie ham«, sagte der Constabler Krause. »Wenn wa den Täta erst ham, dann zeicht der uns, wie et jewesen is, und allet is janz einfach.«
Werpel wurde immer mutloser, denn er ahnte schon, dass alles, was er unternahm, nichts nutzen würde. Aber seine Oberen und die Bürger erwarteten von ihm, dass er irgendwelche Maßnahmen ergriff. Er ließ sich zu Willibald Alexis führen und hoffte, dass der eine Idee haben würde.
Doch der Schriftsteller zuckte mit den Schultern.
»Nein, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen. Aber einen Augenblick bitte, ich glaube, da draußen reißt mein Freund Hitzig am Klingelzug, und der ist schließlich einst Criminalrath gewesen und kennt mehr Criminalfälle als ich, vielleicht fällt ihm etwas ein.«
Werpel freute