Der Tanz der Koperwasy. Bernd Nowak
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All dies blieb über die Jahre in geheimnisvollen Vermutungen versunken. Entweder wusste Gienia nicht so viel oder sie wollte das Thema nicht berühren. Aber es war ausgerechnet die Tante, die mir bewusst machte, dass es schien, als würde jemand, wenn nicht das Schicksal aller, so doch das von Marta lenken. Als hätte sie jemand von hier, wie einst aus Ägypten, herausgeführt. Wie durch Zufall flüchtete ihr zweiter Mann aus dem Gefängnis, als ihr erster Mann Kazik gerade seine Strafe absaß. »Das Gefängnis hat ihr einen Kerl genommen und einen Kerl gegeben«, erklärte sie mir philosophisch. »Es hat ihr den besseren gegeben und den schlechteren genommen. Weil Kurt, obwohl Deutscher, besser ist.«
Damals verwunderte mich dieser Satz, denn ich wusste, dass Kazik Krupniak gleichsam ein Zögling der Tante war. Aus dem Priesterseminar geflogen, wurde er von den Koperwasy noch vor dem Krieg, als das junge Ehepaar seine Karriere begann, aufgenommen. Relativ schnell erreichte er die bequeme – wenn auch der Würde etwas abträgliche – Position eines angeflickten Bruders. Als man begann, nach einem Heiratskandidaten für Marta Ausschau zu halten, kam die Familie einvernehmlich zum Ergebnis, dass es wenig Sinn mache, einen fremden zu nehmen, wenn man einen eigenen habe. Einen guten, recht vermögenden und allseits bekannten. Auch vom Aussehen her fehlte es ihm an nichts. Hochgewachsen und dunkel, mit weißen Zähnen und gelockten Haaren, war er ein im Dorf auffallender junger Mann. Marta ließ sich überreden, obwohl ihr Kazik, warum auch immer, nicht so ganz gefiel. Über das Schicksal der ersten Ehe von Marta erfuhr ich zunächst etwas von Aloch, später von dem unglückseligen Kazik. Den Rest erzählte sie mir dann selbst.
Es war schon nach Kriegsende. Die Russen kehrten etwas lustlos ins sowjetische Paradies zurück, Dankbarkeit und Angst legten einem nicht nur nahe, alles mit ihnen zu teilen, sondern sich auch über ihre Anwesenheit und die neue Form von Freiheit zu freuen. Also freute man sich auch. Gerade da tauchte Grischa im Dorf auf. Onkel Ed, Inhaber einer erbeuteten Schmiede, freundete sich schnell mit dem Offizier an und bewirtete ihn wochenlang auf den gerade in Besitz genommenen Ländereien. Mehrtägige Zechgelage, die mit dem vor Ort beschafften Schwarzgebrannten versetzt waren, dauerten an. Unters Messer kamen Ferkel und schließlich auch Ziegen, die die Kriegswirren überstanden hatten. Gemordet wurde alle Schöpfung, die man anfangs noch abtastete, dies aber später ließ.
An der nicht enden wollenden Feier der Sieger nahm auch Krupniak, ein enger Freund des russischen Leutnants, teil, dem er die wärmsten – wenn auch recht trunkenen – Gefühle entgegenbrachte. Bis zur Besinnungslosigkeit betrunken küsste man sich und weinte, schließlich sang man traurige – Kazik nur brummelnd – Volkswaisen. Der Russe trug ihnen lebenslange Freundschaft und sie boten ihm Blutsbruderschaft an. Später, nachdem sie sich aus dem Haus gewälzt hatten, schossen sie mit Pistolen Salut oder – nüchterner geworden – auf die sogenannte Freiheit und den Sieg. »Das waren«, erinnerte sich die Tante, »wirklich großartige Zeiten.«
Der Gesellschaft schlossen sich auch andere an. Die Männergesellschaft (manchmal wurde eine der Soldatinnen mitgebracht oder, was besser war, eine erbeutete Deutsche) lumpte besinnungslos vor sich hin. Fast jeder der Russen schleppte all das mit sich herum, was er gestohlen hatte. Auf seine Findigkeit stolz, war man sofort bereit, einen Tauschhandel – etwas gegen nichts – abzuschließen.
An einem dieser Tage wurde beschlossen, das Zechgelage mir der Heirat der jungen Leute zu verbinden. Marta wehrte sich, stimmte aber – in den Wahnsinn der Feier mit einbezogen – schließlich zu. »Koperwasy! Koperwasy!«, schrie man bei Tisch und stieß so mit den Gläsern an, als wäre dieser Name mehr als nur ein Name. Als wäre es der alte Schlachtruf eines Geschlechts, das man jetzt neu entdeckte und präsentierte – wie ein frisches Wappen.
Die Hochzeitsfeier musste natürlich drei Tage dauern. Niemand von den Hochzeitern konnte sagen, wann die Feier begann und wann sie endete. Noch lange nach der kirchlichen Trauung (die ausgerechnet der Pfarrer aus Brachlewo vollzog) wurde vom Kuchen gegessen. Der Russe hatte aus einem bei Berlin gelegenen Gestüt einen stattlichen Hengst mitgebracht. Die Onkel, obschon betrunken, kalkulierten dessen Qualitäten nüchtern. Als der Leutnant aus Meve (heute das Städtchen Gniew) auf ihm angeritten kam, traten nur wenige Dorfbewohner heraus, um zu schauen. Braun, glänzend vor Sauberkeit und Haferkost, ging er in leichtem, alle Muskeln bewegendem Trab. Er glich dort einem fremden, aristokratischen Tänzer.
Diese Freundschaft, selbst die hochzeitliche, konnte nicht ewig währen. Es kam die Zeit des Abzugs – und der Russe reiste ab. Der Befehl sprach von Montag. Grischa aber war schon Freitag abgezogen … Allerdings stand der rassige Deckhengst weiter im Stall der Koperwasy.
Es dauerte einige Monate, bis das NKWD auf eine Spur stieß. In der Scheune wurde Grischas Leiche ausgegraben und die als Hauptschuldige verurteilten Onkel Fredek und Kazik gingen für lange Jahre ins Gefängnis von Sztum. Dass sie, entgegen der Erwartungen, nicht zum Tode verurteilt wurden, hatten sie angeblich Gienia zu verdanken.
Freds Schmiede wurde geschlossen, die Pferde Kaziks wurden verkauft und Marta – gerade erst Braut geworden – blieb allein auf dem Hof. Fünf Monate später gebar sie die Zwillinge, nach neun Monaten begrub sie die Kinder. Sie waren aus ungeklärter Ursache in einer Nacht gestorben. Man bestattete sie in einem kleinen Grab, direkt neben den Kriegsgräbern. Ohne Grabstein und Tafel; nur die Familie wusste, wen diese Grasdecke barg.
»Der Krieg hat alles durcheinandergebracht …«, seufzte die Tante einmal, ganz im Begriff, sich anzuvertrauen. »Marta war jung und die Zeiten unsicher. Ich dachte, es wäre gut, wenn sie denn einen hätte. Aber es kam anders …«
IV
Wir fuhren in den Ferien und zu Beerdigungen manchmal zu Taufen oder zu Erstkommunionen nach Koperwasy, aber nicht an Feiertagen. Und zwar niemals, wenn ich mich recht erinnere.
Nicht nur deshalb, weil es an Feiertagen ganz wenig Zeit gab, es zu weit war und die Züge überfüllt und teuer waren. Die Ursache lag woanders. Großmutter hätte uns nicht gelassen. Während der Feiertage wollte sie uns alle bei sich haben. Das waren Familientage, die nur einer Sache gewidmet waren, deren Wesen, Kern und Zentrum das frühe Aufstehen zur Ostermesse, der Gang zur Christmette, das Teilen der Oblate oder das österliche Frühstück waren. »Was wir ersehnten, haben wir erhalten, Alleluja«, sprach Großmutter, ohne ihre Rührung zu verbergen. Oder, wenn die Schneeflocken vor dem Fenster tanzten und das Mondlicht von den Feldern und Dächern widergespiegelt wurde, sprach sie in dem ihr vertrauten Latein den wunderschönen Satz: »Gloria! Gloria in excelsis Deo.«
An diesen Tagen wurden wir von nichts anderem abgelenkt. Weder von der Schule noch von Freunden oder von dem damals noch nicht vorhandenen Fernsehen. Und die Großmutter nicht von ihrer Arbeit. Es war seltsam und überraschend, dass nicht einmal die Arbeit als Hebamme, die ihrem Wesen nach Überraschungen und unmöglich festzulegende Termine in sich trägt, uns die Großmutter wegnahm. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie uns jemals an einem dieser Tage hätte allein lassen müssen. Sie war immer mit uns zusammen. So, als ob man da oben irgendwie wusste, dass man jetzt nicht stören durfte, besonders in einer Situation, in der wir für alle anderen Dinge so viele Tage hatten, an denen wir uns nicht auf die Angelegenheiten Gottes und – was vielleicht noch wichtiger war – der Menschen konzentrieren. Angelegenheiten der Eltern, Brüder und Schwestern. Der Eltern, die als Erste am Tisch fehlen würden. Der Brüder, die – wie das eben so ist – den Vater und die Mutter verlassen, um ihrer Frau zu folgen. Der Schwestern, die ihre Nester bauen. Ihre neuen Nester, die für sie wichtiger sind als jene, aus denen sie kamen. Jetzt also, so lange es nur geht, sollten wir uns gemeinsam an uns erfreuen, uns