Namenlose Jahre. Marina Scheske

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Namenlose Jahre - Marina Scheske

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      Marina Scheske

       NAMENLOSE JAHRE

      Die Geschichte einer Flucht

      Engelsdorfer Verlag

      Leipzig

      2017

      Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

      Personen und Handlungen sind frei erfunden.

      Jede Ähnlichkeit mit existierenden Personen

      wäre rein zufällig.

      Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig

      Alle Rechte beim Autor

      Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

       www.engelsdorfer-verlag.de

       Inhaltsverzeichnis

       Cover

       Titel

       Impressum

       1. Kapitel

       2. Kapitel

       3. Kapitel

       4. Kapitel

       Epilog

       1. Kapitel

      Gerhard Erdmann verlässt den dunklen Torweg der Polizeiwache. Geblendet vom hellen Licht schließt er die Augen, hinter seiner rechten Schläfe pocht ein starker Schmerz.

      Still ist es um diese Zeit in der Bahnhofsstraße. Der Morgenzug ist längst abgefahren, weit und breit sieht man keinen Menschen. Sein Blick fällt auf einen grauen Betonkübel.

      Ein staubiges, gelb blühendes Kraut wuchert in trockener Erde, die so grau ist wie die Straße und so grau wie ihre Häuser, aus denen kein Laut dringt.

      Noch steht er zögernd vor dem Tor und überlegt, wie es nun weitergeht mit ihm. Er fühlt sich nicht in der Lage, eine Entscheidung zu treffen. Der Schmerz vernebelt seine Gedanken.

      Als er den schrillen Ton einer Klingel hört, setzt er sich in Bewegung und er läuft wie ein Flüchtender. Hastig, fahrig und gehetzt läuft er, hält seinen Blick gesenkt und wird immer schneller.

      Schon hat er die wenigen Hauptstraßen der kleinen Stadt hinter sich gelassen und biegt in eine schmale Gasse ein, die am Ufer der Oder endet. Aufatmend setzt er sich auf eine Bank.

      Das sanfte Plätschern des Wassers beruhigt sein pochendes Herz, zugleich erinnert es ihn an den Morgen des gestrigen Tages. Mit seiner Angel saß er hier und ahnte nichts von seinem heutigen Ungemach.

      Die wärmenden Strahlen der Sonne streicheln sanft sein Gesicht. Ich bin furchtbar müde, denkt er, ich werde jetzt endlich nach Hause gehen und mich hinlegen. Doch plötzlich steigt ein Gedanke in ihm auf wie eine Feuerlohe. Schnell steht er auf und schaut sich um.

      Er kann nicht mehr hierbleiben. Wenn er bleibt, werden sie ihn niemals ausreisen lassen. Susanne wartet in Freiburg auf ihn. Er soll nachkommen, so war es verabredet.

      Er denkt an seines Vaters Worte. Voller Verachtung sprach er von Susanne, die das Vertrauen des Staates schmählich missbraucht hatte, wie er sich ausdrückte. Republikflucht, was für eine Schande und ausgerechnet sein Sohn hatte sich mit diesem Mädchen verlobt.

      Es folgte eine Litanei über sein verbummeltes Leben, das er nach Meinung seines Vaters führte. Darunter verstand er seine permanente Verweigerungshaltung gegenüber allem, was nur annähernd nach seinem Weltbild roch. Da war das Abitur, das er nicht gemacht hatte, um niemandem zum Munde reden zu müssen. Hinzu kam die Befreiung vom Wehrdienst wegen eines angeborenen Wirbelsäulenleidens, was sein Vater als Drückebergerei bezeichnete und letztendlich die Weigerung, in die SED einzutreten.

      Er erreichte, was er wollte. Irgendwann strich sein Vater resignierend die Segel. Weit weg von Partei und Staat hatte er es sich gemütlich eingerichtet. Er wohnte in seiner Einzimmerwohnung, ohne sich um die Nachbarn zu scheren und arbeitete wochentags als Schlosser in einem Landbaubetrieb. An den Wochenenden saß er mit seiner Angel am Fluss oder fuhr mit der Bahn zu Rockkonzerten. Sein Leben fand in einer Nische statt. Es gab viele Nischen in diesem Land. Eine Mauer des Schweigens errichteten sie um ihre Enklaven und schufen so im eingemauerten Staat eine zweite, ganz private Mauer, hinter der sich das Miniaturland ihrer kleinen, persönlichen Freiheit verbarg. Am Sonntag saßen sie in ihren Schrebergärten, schimpften über die Obrigkeit und den Mangel an Konsumgütern und wähnten sich sicher zwischen Erdbeerstauden und Gartenzwergen. An den Gedanken, dass unter ihren Nachbarn jemand sein könnte, der sie an die Stasi verpfiff, hatte man sich längst gewöhnt.

      Auch Susanne wünschte sich einen Schrebergarten, doch dann kam alles anders. Gemeinsam mit ihren Eltern beantragte sie eine Besuchsreise in die Bundesrepublik Deutschland.

      Eine Silberhochzeit in der Verwandtschaft gab den Anlass und das Glück war ihnen hold, sie erhielten die Genehmigung. Stillschweigend vereinbarte man, drüben zu bleiben.

      Er denkt an ihren letzten Abend. Sie saßen am Ufer des Flusses. Leise redeten sie, obwohl weit und breit kein Mensch zu sehen war. Vorsicht war angebracht, inzwischen hatte sich die Kunde von Familie Riedels Westreise wie ein Lauffeuer in der kleinen Stadt verbreitet.

      Er schließt die Augen und sieht ihr liebliches Mädchengesicht, in dem das Leben noch keine Spuren hinterlassen hat. Es ist das Gesicht eines Kindes und kindlich naiv klingen auch ihre Worte. Sie spricht von einem Land, das sie nur aus dem Fernsehen kennt. Ein Land voller Freiheit und Buntheit, so schön wie ein verheißungsvolles Schaufenster.

      Viele würden doch jetzt rübergehen, über Ungarn oder Prag. Aber er soll sich nicht in Gefahr begeben, sondern lieber einen Ausreiseantrag stellen. Auch ihre Eltern meinen, dass es so am Besten wäre. ...

      Ihre Eltern sind froh, wenn ich nicht nachkomme, denkt er. Ich bin ihnen nicht recht als Schwiegersohn. Ich, der Sohn eines Offiziers, eines in der Nachbarschaft unbeliebten Mannes, sie nennen ihn den „Schlüssellochspion“. Einer, der am Wahlsonntag an der Tür klingelt, um an den Urnengang zu erinnern.

      Er

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