Namenlose Jahre. Marina Scheske
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Am Ende der Brücke setzt er sich auf eine Bank und während er die Schokolade isst, die ihm Frau Seewaldt fürsorglich eingepackt hat, betrachtet er die flanierenden Touristen. Fremde Sprachfetzen dringen an sein Ohr, er schnuppert dem Parfüm einer eleganten Frau nach und bestaunt das extravagante Aussehen zweier Männer. Sie tragen Schottenröcke, Kniestrümpfe und derbe Wanderschuhe.
Er schließt seine Augen und spürt eine übermütige Freude in sich aufsteigen. Ich werde mir die Welt anschauen, denkt er. Alles werde ich sehen und es dann malen. Ja, malen werde ich wieder, jetzt habe ich Lust drauf. Und niemand kann mir mehr verbieten, irgendwohin zu gehen, um zu leben, wie es mir passt. So wie damals, als ich nach Berlin wollte und sie mir die Zuzugsgenehmigung verweigerten.
Im Strom der Touristen lässt er sich treiben und steht schließlich vor dem Veitsdom, umringt von einer Gruppe junger ausländischer Touristen. Ihre Fröhlichkeit ist ansteckend, doch der Anblick eines grimmig dreinschauenden Polizisten erinnert ihn daran, warum er nach Prag gekommen ist. Der Gedanke, dass die Freiheit dieser Stadt nur eine trügerische Illusion ist und er den Ort, wo Freiheit für ihn greifbar sein wird, noch nicht erreicht hat, überfällt ihn mit kalter Nüchternheit. Seine Euphorie fliegt so schnell fort wie ein Schwarm Tauben vom Platz. Schnell verlässt er den belebten Ort und geht zu einem kleinen Geschäft, dessen Auslage verrät, dass hier außer mit Tabakwaren auch mit anderen nützlichen und weniger nützlichen Kram gehandelt wird. Im altmodisch dekorierten Schaufenster entdeckt er zwischen neongrünen Dauerlutschern, vergilbten Zeitschriften und aufgetürmten Zigarrenkisten, wonach er sucht. Landkarten und Stadtpläne liegen dort zwischen toten Fliegen und einem Sortiment nostalgisch anmutender Pfeifen.
„Trafik“ steht auf der Fensterscheibe und er erinnert sich an Herrn Seewaldts Worte: „Geh in einen Tabakladen, die Inhaber sprechen meist deutsch. Dort fragst du, wie du in die Josefstadt kommst. Du sagst einfach, dass du ein Tourist bist und zum jüdischen Friedhof willst. Aber bevor du hineingehst, schau dich genau um, du musst vorsichtig sein.“
Der Ton des Ladenglöckchens reißt ihn aus seinen Gedanken. Ein junger Mann kommt heraus, er trägt einen hellen Sommerblouson, sein fahles, blondes Haar ist akkurat gescheitelt. Beim Anblick der dezenten Farblosigkeit des Fremden steigt ein gewisses Unbehagen in ihm auf. Ihre Blicke begegnen sich. Hastig öffnet der Fremde die eben erworbene Packung Zigaretten und sucht in seinen Taschen nach dem Feuerzeug. Während er das würzige Aroma des aufsteigenden Qualms riecht, hat er auf einmal wieder große Lust, zu rauchen. Susanne zuliebe gewöhnte er es sich ab. Ich geh jetzt endlich da rein, denkt er. Ich kaufe Zigaretten, das ist ganz unauffällig. Und dann frage ich nach der Josefstadt. Mehr so beiläufig. Es nützt ja nichts, ich darf jetzt keinen Schiss haben.
Der Fremde überquert die Straße, anscheinend hat er nur auf das Signal der Ampel gewartet. Wieder läutet das Glöckchen an der Tür, ein älterer Mann kommt aus dem Hinterzimmer und nickt ihm freundlich zu.
Gerhard zeigt auf eine Packung der DDR-Marke „F6“.
„Eine Schachtel bitte und ein Feuerzeug.“
„Sehr wohl, der Herr.“
Er überlegt, ob er mit Ostgeld oder lieber mit den Kronen zahlt, die ihm Frau Seewaldt beim Abschied in die Jackentasche steckte. Schließlich legt er die Kronen auf den Tresen.
„Haben Sie vielleicht ... Ich brauche einen Stadtplan. Ich will in die Josefstadt.“
Der hellwache Blick des alten Mannes irritiert ihn, Unbehagen steigt in ihm auf. Er wendet sich ab und schaut durch die kleine Schaufensterscheibe. Draußen ist niemand, kein Mann im hellen Sommerblouson, keine Menschenseele.
„Selbstverständlich, der Herr, nehmen Sie diesen, der ist gut. ... Große Schrift und es ist alles eingezeichnet. Der hier ist zwar billiger, aber ein bisschen ungenau, wenn ich das mal so sagen darf.“
„Ich dachte, die sind alle gleich, liegt das nicht in der Natur der Sache?“
Der Alte macht eine abwägende Handbewegung.
„Oh nein, mein Herr, da gibt es schon gewisse Unterschiede. Aber bei mir haben Sie noch die Auswahl. Am Bahnhof sind sie bereits alle ausverkauft.“
Natürlich ahnt er, weshalb Stadtpläne zurzeit in Prag ausverkauft sind, doch nun will er so schnell wie möglich weg und geht nicht auf die Anspielung des alten Mannes ein.
„Nehmen sie auch Ostmark?“
Der Alte nickt, er schaut dabei aus dem Fenster. Eine Gruppe junger Leute hat sich vor seiner Schaufensterscheibe versammelt. „Deine Landsleute“, sagt er leise. Er streicht das Geld ein, gibt das Wechselgeld heraus, dann beugt er sich über den Tisch und auf seinem gemütlichen Gesicht zeigt sich ein breites Grinsen. „Sie sehen alle gleich aus.“
„Mag sein“, antwortet Gerhard, nickt ihm zu und verlässt schnell den Laden.
Während das Glöckchen hinter ihm klingelt, geht er durch die einförmig gekleidete Menge. Jeanshosen und Jacken, blau verwaschen, soweit das Auge reicht. Im Stillen dankt er Frau Seewaldt für die Verwandlung, die sie ihm angedeihen ließ. Sicher hat ihn nur das Ostgeld verraten.
An der Ecke bleibt er stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Sie schmeckt ihm nicht, ihm wird schwindelig und er wirft sie in den Rinnstein.
Er nimmt die Straßenbahn. Der alte Mann im Laden hat recht, dieser Stadtplan ist gut, da kann nichts schief gehen. Hinter dem Altstädter Ring steigt er aus und liest das Straßenschild, „Staromeski Namesti“. Er beschließt, von hier aus zu Fuß weiterzugehen.
An einem kleinen Verkaufskarren kauft er sich eine Wurst im Brötchen, die sich hier nicht Bockwurst nennt, sondern weltläufig englisch „Hot Dog“. Enttäuscht dreht er den ersten Bissen im Munde um. Die Wurst schmeckt nicht und das Brötchen ist pappig, beides nicht vergleichbar mit der Bockwurst am heimischen Bahnhofskiosk. Gegenüber auf einem kleinen Platz sieht er einen Biergarten. Ein Bier wäre jetzt nicht schlecht. Aber er kann sich hier nicht hinsetzen, auch wenn der Gedanke sehr verlockend ist. Noch weiß er nicht, was ihn erwartet.
Dennoch bleibt er eine kleine Weile im Schatten der Kastanien vor dem Lokal stehen.
Was er hört und sieht, gefällt ihm sehr. Eine kleine Kapelle spielt für die Gäste. Sicher sind es umherziehende Straßenmusikanten, denkt er. Es könnten Roma sein. Klein und gedrungen sind die drei Männer von Gestalt. Sie tragen schwarze, enge Hosen und weiße, bauschige Hemden. Schwere Goldketten sieht er aufblitzen und ihr dunkles langes Haar glänzt in der Sonne, als hätten sie es mit Gel glatt gekämmt. Der Älteste spielt auf einer Geige, er tut es mit Hingabe und Meisterschaft. An seiner Seite steht ein Akkordeonspieler, ein sehr junger Mann, fast noch ein Kind. Unentwegt schaut er den Älteren an und ab und zu huscht ein kleines Lächeln über sein Gesicht. Der Dritte gibt mit einem Tamburin den Takt an und singt dazu in einer fremden Sprache. Seine Augen sind geschlossen und er singt seltsam verhalten. Es klingt, als hielte er es mühsam zurück, dieses Große, Wuchtige, Leidenschaftliche, das wie ein Vulkanausbruch über den Platz schallen würde, wenn er es voll aus seiner Kehle ließe.
Er versucht, sich zu erinnern, wann er je in seinem Leben Roma gesehen hat. Es muss in Berlin gewesen sein und sicher ist es sehr lange her, er war wohl noch ein Kind. In Schwedt nennt man sie Zigeuner und das Musizieren auf den Straßen ist dort sicher verboten. Auch in den