Schöne Grüße aus dem Orbán-Land. Ernst Gelegs
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Das in Europa einzigartige Wahlsystem in Ungarn (eine Parlamentswahl besteht aus zwei Wahlgängen) und die damit verbundene besondere Wahlarithmetik führten 2002 dazu, dass die MSZP, die sozialistische Partei mit ihrem Spitzenkandidaten Péter Medgyessy, 178 der 386 Mandate erhielt, obwohl Viktor Orbáns FIDESZ nach dem zweiten Wahlgang in Prozenten etwas besser abschnitt als die Sozialisten. FIDESZ schaffte mit 164 Mandaten lediglich Platz zwei.
Drittstärkste Kraft im Parlament wurde damals das bürgerliche Ungarische Demokratische Forum, kurz MDF (Magyar Demokrata Fórum), mit 24 Mandaten. Mit Ach und Krach und 20 Mandaten schaffte der linksliberale Bund der Freien Demokraten, kurz SZDSZ (Szabad Demokraták Szövetsége), den Einzug ins Parlament und diente sich sogleich den Sozialisten als Koalitionspartner an. Ein Angebot, das diese bereitwillig annahmen, denn eine andere Partei wäre ohnehin nicht in Frage gekommen.
Die Sozialisten kamen gemeinsam mit den Linksliberalen auf eine hauchdünne Mehrheit von 198 Mandaten, nur zehn Mandate mehr als die beiden bürgerlichen Oppositionsparteien FIDESZ und MDF zusammen.
Am 27. Mai 2002 wird Péter Medgyessy und seine Regierungskoalition angelobt. Seine linksliberale Regierung macht sich auch gleich ans Werk und begeht einen schweren Fehler nach dem anderen. Auf Punkt und Beistrich erfüllt der neue Regierungschef jedes einzelne seiner Wahlversprechen. Schön brav, eines nach dem anderen. Medgyessy lässt in Ungarn Milch und Honig fließen, so als gäbe es kein Morgen.
Und es folgt, was folgen muss und alle Ökonomen schon vor der Wahl prognostiziert hatten: der Sturz des Landes in die Schuldenfalle. Ein Jahr nach der von Medgyessy gewonnenen Wahl beträgt die Neuverschuldung Ungarns mehr als zehn Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Ein Minus, von dem sich das Land bis heute nicht restlos erholt hat.
Während der frischgebackene Ministerpräsident Péter Medgyessy im Land großzügig Geld verteilt, das nicht verdient worden ist, sondern das er sich auf „den Märkten“ geholt, sprich: ausgeborgt hat, verhindert Viktor Orbán in der Folge der Wahlniederlage seine Demontage in der Partei. Gleich beim ersten FIDESZ-Kongress nach dem schmerzhaften Regierungswechsel sorgt Orbán für einen Statutenwechsel, der ihn vor einem innerparteilichen Machtverlust schützt. Er setzt eine Regelung durch, wonach der jeweilige Ex-Ministerpräsident, sofern er FIDESZ-Parteimitglied ist, automatisch für vier Jahre Angehöriger des Parteipräsidiums ist. Mit Hilfe dieser „Orbán-Klausel“ verhindert er, sich bei den nächsten Parteikongressen der Wiederwahl für das wichtigste Exekutivorgan der Partei stellen zu müssen. Diese geschickte Umgehung und Aushebelung demokratischer Prozesse zu seinen Gunsten pflegt Viktor Orbán noch heute, allerdings nicht mehr innerparteilich, sondern mittlerweile als Regierungschef im Staatsgefüge.
Um zu gewinnen, ändert er notfalls auch die Spielregeln während des Spiels. Der begeisterte Fußballfan Viktor Orbán kann sich innerparteilich an der Macht halten, er bleibt im Spiel. Der im Dress des „Big Spenders“ am „linken Flügel“ herumirrende Péter Medgyessy nicht.
Wer anderen eine Grube gräbt …
Die erste Attacke der Konservativen rund um Viktor Orbán gegen die linksliberale Medgyessy-Koalition wird zum PR-Desaster, sie ist quasi ein Schuss ins eigene Knie. Nur drei Wochen nach dem Amtsantritt von Péter Medgyessy als Ministerpräsident enthüllt die Zeitung „Magyar Nemzet“, das Sprachrohr der nationalkonservativen Partei FIDESZ, dass der amtierende Regierungschef während des Kommunismus für das damalige Regime gespitzelt hat. Sein Deckname war damals D-209. Veröffentlicht wird ein Dokument, wonach Medgyessy als Offizier im Dienste der Spionageabwehr stand.
Der Ministerpräsident dementiert heftig, spricht von Lügen und Verleumdung, räumt aber dann doch ein, dass er Ende der 70er-Jahre als ranghoher Mitarbeiter des Finanzministeriums unter strenger Geheimhaltung den Beitritt des kommunistischen Ungarns zum IWF, dem Internationalen Währungsfonds, vorbereitet habe, er also geheimdienstlich tätig gewesen sei. Die Geheimhaltung sei notwendig gewesen, weil die Sowjetunion stets gegen Ungarns IWF-Beitrittsambitionen aufgetreten sei, wie er sagt. Im Parlament rechtfertigt sich Medgyessy mit dem Argument, dass er geholfen habe, Staatsgeheimnisse zu schützen. Ein Agentenjäger sei kein Agent oder Informant, betont er vor den Parlamentariern, und er beteuert, niemanden bespitzelt und über niemanden Berichte geschrieben zu haben.
Doch die öffentliche Aufregung ist so groß, dass dem neuen Ministerpräsidenten nichts anderes übrig bleibt, als im Parlament die Vertrauensfrage zu stellen, nicht zuletzt deshalb, weil die Medienberichte über die Agententätigkeiten des Genossen D-209 auch im Ausland hohe Wellen schlagen. Immerhin steht Ungarn knapp vor dem EU-Beitritt. Die konservativen Oppositionsparteien, allen voran Viktor Orbáns FIDESZ, fordern den sofortigen Rücktritt Medgyessys, sie sprechen von der schwersten Verfassungskrise im Nachwende-Ungarn und wittern die Chance auf Neuwahlen.
Doch sie freuen sich zu früh. Die von der Opposition herbeigeführte Regierungskrise ist nach 48 Stunden auch schon wieder vorbei. Die sozialistische Fraktion lässt ihren Kandidaten nicht fallen und spricht ihm das volle Vertrauen aus. Lediglich der Koalitionspartner der Sozialisten, der linksliberale Bund SZDSZ, gibt sich anfangs zögerlich, stimmt aber letztlich für den Verbleib des Ministerpräsidenten in seinem Amt, weil die Sozialisten versprochen haben, die Archive des kommunistischen Geheimdienstes vorbehaltlos zu öffnen. Mit diesem Zugeständnis retten sie den Fortbestand der erst vier Wochen alten Regierungskoalition.
Als Medgyessy wieder fest im Sattel sitzt, erfüllt er seinem Koalitionspartner (SZDSZ) das Versprechen der Sozialisten. Er initiiert eine Gesetzesänderung, wonach alle Akten der Staatssicherheit (Stasi) offengelegt werden müssen.
Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss wird eingerichtet, der die Stasi-Vergangenheit aller Politiker seit der Wende durchleuchtet. Untersucht werden fünf Ministerpräsidenten, 97 Minister und 106 Staatssekretäre. Diese Untersuchung gerät zum glatten Desaster für Orbáns FIDESZ. Sie ergibt, dass in der ersten Orbán-Regierung (1998 – 2002) nicht weniger als fünf Regierungsmitglieder für den kommunistischen Geheimdienst tätig waren. Konkret genannt werden Außenminister János Martonyi, Finanzminister Zsigmond Járai, Europaminister Imre Boros, Verkehrsminister László Nógrádi und Staatssekretär László Bogár.
So viele Minister mit Stasi-Vergangenheit wie unter Orbán hat es noch in keiner Regierung Ungarns nach der Wende gegeben.
Viktor Orbáns FIDESZ ist es mit den Spitzelenthüllungen nicht gelungen, die Medgyessy-Regierung in Misskredit zu bringen. Im Gegenteil. Die Partei und auch Orbán selbst verlieren unmittelbar nach der Affäre massiv an Popularität. Im Ranking der beliebtesten Politiker steht Medgyessy plötzlich auf Platz eins. Orbán muss sich mit Rang 23 begnügen, eine Demütigung für den machtbewussten Ungarn.
It’s the economy, stupid!
Den für Bill Clinton erfundenen Slogan im US-Präsidentschaftswahlkampf des Jahres 1992 „It’s the economy, stupid!“ (Es ist die Wirtschaft, Dummkopf!) musste sich nicht nur der damalige Amtsinhaber George Bush sen. an den Kopf werfen lassen, sondern gut zehn Jahre später auch Péter Medgyessy.
Nach dem Rekorddefizit im Jahr 2002 von fast zehn Prozent lässt der Regierungschef für 2003 wieder ein Defizit in der Höhe von 4,5 Prozent budgetieren. Alle Ökonomen äußern damals ihre Befürchtung, dass die Regierung die Gefahren einer derart hohen Neuverschuldung unterschätze. Und sie behalten Recht. Das Defizit im Jahr 2003 klettert letztlich auf knapp sechs Prozent des Bruttoinlandsproduktes.
Während der Schuldenberg Ungarns immer größer und größer wird, bleibt der Regierungschef eisern bei seiner Politik des Defict-Spending. Die ungarische Wirtschaft will er mit groß angelegten Straßen- und Autobahnbauten ankurbeln. Medgyessy verspricht seinen Landsleuten den Neubau