Meine Geparden sind auf dem Weg. Vahid Monjezi
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Morshed war damals 50 Jahre alt. Er hatte eine starke und glasklare Stimme, mit der er jeden Zuhörer sofort begeistern konnte. Er war viele Jahre in dieser Zurkhaneh der Meister und beherrschte perfekt das Zusammenspiel seiner Stimme mit der Trommel, so dass alle Athleten allein durch diese Harmonie beflügelt wurden.
Seitlich des Ringes war die Kanzel, auf der Morshed mit seiner flachen Trommel saß. In Kopfhöhe vor ihm hing die Schelle. Ringsherum die Bilder der persischen Helden aus vergangenen Zeiten. Man sah den Helden ihre Kraft förmlich an, mit ihren Muskeln und blanken Oberkörpern zeigten sie sich in verschiedenen Posen.
Die Männer stellten sich rund um den Ring. Morshed schlug die Schelle. Ein Mann bat um Erlaubnis und kam direkt in die Mitte des Ringes. Er stellte sich auf die Fußspitzen, streckte seine Hände zur Seite und begann sich um die eigene Achse zu drehen.
Morshed trommelte immer schneller und der Mann drehte sich wie eine Ballerina dazu.
Als Zahak auf den Thron erhoben war,
gingen vorüber ihm tausend Jahr.
Der Brauch der Weisen verloren ging,
in Schwung der Wille der Thoren ging;
Tugend verachtet, verehrt Zauberei,
das Recht verborgen, das Unheil frei;
Die Dewen frech, offen zum Bösen gelaunt,
vom Guten ward nur im Stillen geraunt. (17)
Einige Gemälde an der Wand erzählten die Geschichte von Zahak(18), dem aus seinen Schultern Schlangen wachsen. Das Bild zeigte schwarz gekleidete Männer, die eine Gruppe Jugendlicher verhaften und sie mit zum Palast des Königs Zahak nehmen. Dort, wo der Teufel mit seinem langen Bart und listigen Augen als sein Kanzler steht und befiehlt, mit den Gehirnen der Jugendlichen die Schlangen zu füttern.
Wir Kinder saßen auf den Zuschauerplätzen der Zurkhaneh und beobachteten neugierig diese neue Umgebung. Die verschiedenen Farben des Lichtes, das auf den schwitzenden Oberkörpern der Athleten tanzte. Das Bild des feuerspeienden Drachen und die Bilder der starken Helden. Wir sahen das Bild des Simurgh, der große Vogel, der Vogel der Weisheit, der den Athleten zur Hilfe kommt. Alles um uns herum war so außergewöhnlich und verzaubert, wie im Märchen.
Wir lauschten Adels Vater: „Die Zurkhaneh ist ein guter Ort, die Heldenregeln zu lernen.
Je stärker du bist, desto demütiger musst du sein.
Nimm die Hand der Unterdrückten und kämpfe mit ihnen gegen die Unterdrücker.
In der Zurkhaneh üben wir nicht nur Sport. Hier gibt es auch Geschichte, Tanz, Heldenmut und das Lied eines Volkes, das nicht vergessen werden will.
Der Gesang des Morshed erzählt die Geschichte unseres Landes.
Der Ring ist die Bühne, auf der jeder von uns die Rolle eines Helden spielen kann.
Die Athleten sind keine Fremden, sie kommen aus unseren Vierteln und Gassen.
Es sind Bäcker, Lehrer, Schmiede, Schuster und Bauern.
Es sind einfache Leute, aber sie schämen sich davor, schwach zu bleiben, deshalb kommen sie in die Zurkhaneh, um den Geist und Körper zu stärken.“
Es kam ein junger Mann in den Ring mit zwei Keulen in den Händen. Sie sahen aus wie große Kegel, waren aus Holz und etwa einen halben Meter lang. Er nahm die schweren Holzkeulen auf die Schultern und begann, damit um seine Schultern zu kreisen. Er schaute einmal kurz auf zum Gewölbe. Morshed schlug an die Schelle. In diesem Moment warf der junge Mann die Keulen so nach oben, dass sie sich zweimal in der Luft drehten. Er fing sie wie ein Akrobat wieder auf und drehte sie nach vorn, als wäre er mit einem unsichtbaren Wesen im Kampf. Die Trommelschläge wurden immer schneller.
An einer Wand befand sich ein großes Gemälde aus drei Bildern. Das erzählte den Kampf zwischen dem Märchenhelden Rostam(16) und dem weißen Ungeheuer Dewen. Rostam hält eine Holzkeule – so wie die Holzkeulen, die die Athleten in der Zurkhaneh haben – und ein Schwert in seinen Händen. Er versucht, damit den Kopf des Dewen zu treffen. Im letzten Bild starrt das Ungeheuer mit seinen großen roten Augen auf Rostam und versucht, ihn zu greifen.
Ich fragte Adels Vater: „Wie endet diese Geschichte?“
Er schaute mich freundlich an und lächelte: „Ehrlichkeit gewinnt immer.“
Mariwan: „Ich meine das mit dem Ungeheuer?!“
Adels Vater: „Das wahre Ungeheuer ist in jedem von uns. Es ist das, was besiegt werden muss. …
Die Zurkhaneh ist ein Ort, an dem wir lernen, wie wir mit dieser bösen Seite kämpfen müssen.
Denn Lüge und Unrecht sind zwei Krallen dieses Ungeheuers. Die Liebe und die Menschlichkeit sind Keule und Schwert in den Händen der Helden. Der Kampf der Helden ist unendlich, sie müssen täglich dem Unrecht widerstehen. Immer auf’s Neue.“
Morshed sang weiter:
Einen Mühlstein rafft‘ er auf,
zu Rostam kam er wie ein Rauch.
Du bist vermutlich des Lebens satt,
dass du kommst zu der Dewen Stadt.
Als Rostam das hörte, mit starkem Ton,
sprach er: „Bösartiger Unglückssohn!“
Ich bin Rostam vom Ritter Sam,
von Gerschasp ich den Ursprung nahm.“
Mit Klauen des Löwen packt‘ er ihn,
hob ihn empor und warf ihn hin,
Er warf ihn hin wie ein Leu auf die Flur,
so dass dem Leibe die Seele entfuhr.(19)
Die Trommel wurde lauter und die Schelle läutete eine neue Runde im Ring ein.
Ein Athlet legte sich rücklings auf den Boden. Zwei schwere Holzschilde, die aussahen wie alte Kriegsschilde, hielt er in den Händen und kämpfte damit wie ein Soldat mit einem unsichtbaren Angreifer.
Es sah aus, als ob ihn ein Feind mit Schwert und Lanze angreifen wollte und er versuchte, die gedachten Angriffe mit seinen Schilden abzuwehren.
Die Stimme des Morshed klang bezaubernd. Jedes Mal, wenn er zu singen begann, schloss er unbewusst seine Augen und versetzte sich in einen tranceähnlichen Zustand.
Es schien so, als wäre er nicht mehr bei uns oder auf seiner Kanzel, sondern feierte in Trance mit seinen antiken Helden.
Von Beruf war Morshed ein Kunstmaler. Er hatte in der Sanabad-Straße ein kleines