Der kalte Engel. Horst Bosetzky

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Der kalte Engel - Horst Bosetzky

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wieder Patientinnen, die nicht nur Mitleid mit ihr hatten, sondern auch Geld genug, es zu verleihen. Sie nahm den Bettenplan zur Hand und überlegte. Die Gast vielleicht. Der Mann hatte einen kleinen Betrieb, Damenoberbekleidung, und kam im Mercedes vorgefahren.

      Irmgard Gast lag in einem Vierbettzimmer, und sie dort anzusprechen, war ihr nicht nur peinlich, sondern barg auch die Gefahr, dass die Zimmernachbarinnen es hörten und der Oberschwester weitererzählten. Worauf es dann garantiert Ärger gab, denn es war verboten, Patienten anzupumpen. Doch Elisabeth Kusian musste es riskieren, der Kinder wegen. So legte sie sich auf die Lauer und wartete, bis ihr Opfer auf dem Flur erscheinen und zur Toilette gehen würde.

      Ein Mann etwa in ihrem Alter kam den Flur entlanggehumpelt. Unterschenkelamputation, links. Bei einer seiner Gehstützen fehlte unten der Gummi, und so verursachte er einen ziemlichen Lärm. Er trug einen umgearbeiteten Militärmantel und sah auch sonst nicht so aus, als sei er auf Rosen gebettet. War das wieder einer, der etwas klauen wollte?

      Sie verstellte ihm den Weg. »Im Augenblick haben wir keine Besuchszeit.«

      »Entschuldigen Sie, ich habe mich nur verlaufen.«

      »Zu wem wollen Sie denn?«

      »Zu einem Herrn Ramolla.«

      »Das ist aber kein Arzt.«

      »Nein, der Verwaltungsleiter, ich weiß …« Der Mann blieb endgültig stehen und nutzte die Gelegenheit, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. »Ich bin Vertreter … Prothesen, Glasaugen … Nun, nicht so schöne, wie Sie welche haben, aber …« Er stutzte und musterte sie. Dann schoss jähe Freude in ihm auf. »Gott, ja, Sie sind doch die Schwester Elisabeth aus Seelow!«

      »Elisabeth schon, aber nicht aus Seelow, sondern aus Berlin.«

      »Ja, aber in Seelow im Feldlazarett, da haben Sie mir das Leben gerettet. Die Ärzte hatten mich schon aufgegeben, bei mir lohne sich der Aufwand nicht mehr. Bei dem wenigen, was man hatte – Kraft, Medikamente –, da war es sinnvoller, andere auf den Operationstisch zu legen. Da sind Sie aber gekommen und haben gesagt: ›Der Karl-Heinz Gößnitz hier, der ist zu schade fürs Massengrab, bei dem versuchen wir’s noch mal!‹ Und dann haben mich Ihre Medizinmänner ja wirklich wieder zusammengeflickt. Bis auf das Bein hier. Aber trotzdem bin ich glücklich, unendlich glücklich, dass ich noch am Leben bin. Meine Frau, meine Kinder …« Die Rührung übermannte ihn. Er umarmte Elisabeth Kusian und küsste sie auf die Stirn. »Danke, danke für alles. Sie sind ein wahrer Engel! Ich weiß, dass Sie dadurch fast selber ums Leben gekommen wären. Der plötzliche Beschuss …«

      Als der Mann wieder gegangen war, fühlte Elisabeth Kusian eine entsetzliche Leere in sich aufsteigen. Wozu das alles, die Opfer alle? So schön dieser Dank eben auch gewesen sein mochte: Was konnte sie sich dafür kaufen? Nichts. Und alles, was sie hatte, waren Schulden. Und Schmerzen. Wegen der Wunden von damals. Sie hatte keinen Mann, sie hatte keine Wohnung, sie hatte keine Zukunft. Oder … Wie im Traum sah sie plötzlich einen anderen Mann vor sich, ihren Kurt. Er sah diesem Gößnitz auffallend ähnlich, die beiden hätten Brüder sein können. Sollte das Schicksal doch alles wieder gutmachen, was es an ihr verbrochen hatte?

      Da kam Irmgard Gast aus ihrem Zimmer, und Elisabeth Kusian wollte den Aufwind nutzen, den sie gerade zu spüren meinte.

      »Na, Frau Gast, Sie haben ja schon wieder einen Schritt am Leibe! Und blendend sehen Sie aus!«

      Die Patientin, Mitte der fünfzig und ziemlich schwergewichtig, zuckerkrank, blieb stehen und fühlte sich geschmeichelt. »Ja, bei der guten Pflege hier. Besonders durch Sie, Schwester Elisabeth.«

      »Wir tun, was wir können.«

      »Aber Sie – Sie sehen schlecht aus. Sind Sie selber krank?« Elisabeth Kusian winkte ab. »Das kann ich mir nicht leisten. Nein, nein, höchstens dass meine Narbe mal schmerzt.« Sie rieb sich über den Unterbauch.

      »Auch eine Totaloperation?«

      »Nein, im Krieg, im Feldlazarett hat mir ein Granatsplitter den Bauch aufgerissen, und immer wenn es kälter wird, kommen die Schmerzen.«

      Frau Gast schüttelte sich. »Das ist ja entsetzlich. Und in diesem Zustand arbeiten Sie?«

      »Was soll ich machen: Mein Mann ist im Krieg gefallen, meine Eltern sitzen in der DDR im Zuchthaus, Geschwister und wohlhabende Verwandte besitze ich nicht … nur meine drei Kinder im Heim draußen in Teltow, die ich allein durchbringen muss …« Sie begann zu schluchzen. »Ich kann Ihnen nicht einmal Weihnachtsgeschenke kaufen … Wo alles so teuer ist …«

      Die Patientin, immer resolut im Leben, nahm sie in den Arm. »Nun machen wir’s mal umgekehrt, jetzt bin ich mal dran, mich um Sie zu kümmern. Soll ich Ihnen was borgen?«

      »Das ist lieb von Ihnen, aber wir dürfen das nicht.«

      »Gott, Kindchen, das merkt doch keiner. Ich habe fünfzig Mark im Schrank. Wenn ich nachher auf die Toilette gehe, dann kriegen Sie die. Bis zum neuen Jahr. Dann kommen Sie mal bei mir zu Hause vorbei und bringen mir die zurück. Ohne Zinsen.« Sie lachte, froh über ihre gute Tat.

      Elisabeth Kusian konnte aufatmen. Wieder einmal. Und zugleich war sie niedergedrückt. Was war sie denn: eine Bettlerin. Da hatte sie sich auch ein anderes Leben erträumt. Aber immerhin: Zwei Stunden später hatte sie das Geld und konnte überlegen, worüber sich die Kinder am meisten freuen würden.

      Kurt Muschan war ein Mensch, den alle anderen beneideten. Und dies aus vielerlei Gründen. So unbeschadet wie er hatte kaum einer Krieg und Naziherrschaft überstanden. Während andere Männer seines Jahrgangs in Schützengraben, Panzer oder U-Boot Leben und Gesundheit verloren hatten, war es ihm in der Schreibstube einer Verpflegungseinheit wahrhaft gold gegangen. Wie die Made im Speck hatte er gelebt. Und zu Hause: nicht ausgebombt, kein Angehöriger im Luftschutzkeller ums Leben gekommen. »Ja, was ein echter Glückspilz ist …« Auch seine Uschi galt als ein seltenes Prachtexemplar von Kameradin und Mutter, wenn sie auch in letzter Zeit etwas in die Breite gegangen war. Und last but not least: Arbeit hatte Muschan auch, war gleich nach ’45 bei der Kriminalpolizei eingestellt worden. »Wer hat, dem wird gegeben werden«, sagten die Nachbarn, Freunde und Verwandte.

      Muschan liebte es, im Fenster zu liegen und auf die Bahnanlagen hinunterzusehen. Links von ihm erstreckte sich bis hin zum Innsbrucker Platz der Güterbahnhof, und unmittelbar vor ihm lag der Bahnhof Wilmersdorf. Schon als Kind hatten ihn die gelbroten S-Bahnzüge fasziniert, und immer wieder hatte er ihr langgezogenes Öööööh nachgemacht, wenn sie anfuhren. Oder das Zischen der Druckluft beim Bremsen. In der Gegend um den Bahnhof Wilmersdorf und den Kaiserplatz gab es nur vergleichsweise wenig Ruinen, und auch im Jahre 1949 wehte hier noch ein Hauch jener gediegenen Bürgerlichkeit, die Berlin zur Zeit des Nesthäkchens ausgezeichnet hatte. »Schutzmannsruh« sagten Muschans Kollegen dazu.

      Es war nun genug gelüftet. »Besser warmer Mief als kalter Ozon«, war das Motto dieser Jahre, wo Holz und Kohle Mangelware waren. Muschan schloss das Fenster und wandte sich wieder seinen beiden großen Kindern zu. Manfred, mit seinen zwölf Jahren noch ein »echtes Vorkriegsmodell«, spielte mit den mühsam reparierten Resten einer Märklin-Eisenbahn, und Hannelore, 1941 bei einem Fronturlaub gezeugt, vergnügte sich mit einer Puppe, die ihre Oma aus ein paar Putzlappen gezaubert hatte. Dieses Jahr Weihnachten sollte es endlich neues Spielzeug geben. Jetzt, wo man wieder alles kaufen konnte. Helga, die Jüngste, hatte gerade laufen gelernt und riss alles vom Couchtisch und den Regalen herunter. Uschi kam gar nicht so schnell hinterher,

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