Der kalte Engel. Horst Bosetzky

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Der kalte Engel - Horst Bosetzky

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Staub lag auf dem Rahmen ihres Hochzeitsfotos von 1936. Sie fuhr mit dem Zeigefinger darüber. Es hatte weit und breit kein schöneres Paar gegeben als sie.

      Es klingelte. Kurt Muschan lief zur Tür. »Das wird der Bernhard sein, mich abholen. Heute ist ja Skatabend. Bei ihm in Neukölln.« Uschi fragte nach, wer denn Bernhard sei, den Namen habe sie noch nie gehört. »Eigentlich einer von der Staatsanwaltschaft, aber der hospitiert bei der Kripo, um Erfahrung zu sammeln.« Einmal im Monat trafen sie sich zu viert bei einem Kollegen, um ihren Skat zu kloppen. Das Geld kam in eine gemeinsame Kasse und wurde dann am Vatertag auf den Kopf gehauen. Muschan öffnete die Tür. »Immer rein, wenn’s kein Schneider ist.«

      Bernhard Bacheran winkte ab. »Nein, keine großen Umstände bitte, wir haben schon eine Viertelstunde Verspätung.« Die Zeit, Ursula Muschan zu begrüßen und ihr formvollendet und mit leichter Ironie die Hand zu küssen, nahm er sich aber. Der Blick, mit dem er sie musterte, hatte etwas von der tiefen Melancholie eines Fadosängers. Und die Kinder bekamen alle ihren Sahnebonbon. Dann schoben sie ab. Vom Bahnsteig aus winkten sie den vier oben im Fenster noch einmal zu. Dann kam der Vollring über Papestraße, und sie fuhren ab. Bis Neukölln waren es sechs Stationen, doch schon an der zweiten, Bahnhof Schöneberg, stieg Muschan aus.

      Bacheran grinste. »Viel Spaß dann auch.«

      »Euch ebenfalls.«

      »Na, so’n Stich wie du wird wohl heute Abend keiner von uns machen.«

      Muschan winkte dem Freund und Kollegen noch kurz zu, dann lief er die Treppe zur Wannseebahn hinunter. Mit einem verdammt schlechten Gefühl, aber … Die Natur war eben stärker. Punktum. So glücklich Kurt Muschan auch schien, er hatte etwas, das ihn sehr bedrückte: seinen Trieb. Er war gerade 37 Jahre alt, und da musste es halt hin und wieder sein, dass ein Mann eine Frau hatte. Richtig, nicht nur platonisch. War da nichts, dann war man recht eigentlich tot. Und seit sie Helga zur Welt gebracht hatte, da wollte seine Uschi nicht mehr. Ließ sie sich wirklich einmal überreden, dann schrie sie vor Schmerzen, wenn er in sie eingedrungen war. Zum Arzt ging sie nicht, es war ihr zu peinlich. »Es wird schon wieder werden, du musst nur ein bisschen warten …« Jetzt wartete er schon länger als zwei Jahre. Nun war es nicht mehr auszuhalten. Sich selber Erleichterung zu verschaffen, verbot ihm seine strenge Erziehung, und zu einer Prostituierten ging er nicht. Aus Angst, sich anzustecken, wie aus Angst, dass ihn einer seiner Vorgesetzten dabei erwischte und dann nicht mehr beförderte. Derart in sexueller Not, war ihm Elisabeth begegnet. Obwohl es während einer dienstlichen Handlung geschehen war und nicht etwa in einem Tanzschuppen, hatte sie sofort gespürt, wie es um ihn stand.

      Sie hatten sich auf dem Bahnhof Zoo verabredet, aber er wollte sie überraschen und fuhr, als er Friedrichstraße umgestiegen war, nur bis Bellevue, um dort auf sie zu warten. Doch die Minuten vergingen. Keine Spur von ihr. Als Kriminalbeamter hatte er sofort ganz bestimmte Bilder im Kopf. Wie sie vom Krankenhaus kam und dabei, wollte sie zur S-Bahn, durch den Kleinen Tiergarten ging … Plötzlich schnellte ein Mann hinter den Büschen hervor, schlang ihr eine Wäscheleine um den Hals, schleifte sie ins Unterholz, verging sich an ihr und würgte sie zu Tode.

      Zu spät fiel ihm ein, dass sie wahrscheinlich mit der Straßenbahn gefahren war. Die 2 hielt ja direkt vor dem Krankenhaus und fuhr zum Zoo. Er sprang in einen gerade anfahrenden Zug, um nicht zu spät zu kommen. Und richtig, unten an der Uhr stand sie schon.

      »Mein Bub, da bist du ja.« Sie umarmte ihn auf offener Straße.

      »Ach, Elisabeth …« Er nutzte den Trubel und das schwache Licht, um schon hier seinen rechten Schenkel, so weit Rock und Mantel es zuließen, zwischen ihre Beine zu schieben und sie mit dem Knie dort zu massieren, wo sie es gerne hatte.

      »Komm, mein kleiner Stier, bezähme dich.« Da sie noch Schwesterntracht trug, fürchtete sie, Aufsehen zu erregen, öffentliches Ärgernis. »Erzähl mir lieber von deiner Arbeit.«

      »Ja, nun …« Sie gingen nun nebeneinander die Joachimsthaler Straße hinauf und bogen, nachdem sie die Hardenbergstraße überquert hatten, nach hundert Metern rechts in die Kantstraße ein. »Mit den Leichenteilen, die sie am Stettiner Bahnhof gefunden haben, muss ich mich ja Gott sei Dank nicht herumquälen. Das machen die Kollegen im Osten. Wir haben im Augenblick nur die kleinen Fische. Buntmetalldiebe, Wohnungseinbrüche, Beischlafdiebstähle …« Schon das Wort allein war Aphrodisiakum genug und sorgte dafür, dass er es gar nicht mehr erwarten konnte, bei ihr im Zimmer zu sein.

      »Und das alles muss ich ins Protokoll schreiben. Mit Bleistift und Papier. Noch immer hab’ ich keine Schreibmaschine … Wenn ich doch bloß ’ne Schreibmaschine hätte! Ein Königreich für eine Schreibmaschine.«

      »Warte mal ab …« Sie lächelte ebenso schelmisch wie geheimnisvoll. »Bald ist ja Weihnachten.«

      »Elisabeth, bist du verrückt?!«

      »Ja, nach dir.«

      »Du kannst mir doch keine Schreibmaschine schenken, so viel verdienst du doch auch wieder nicht.«

      »Lass man, meine Schwiegereltern sind sehr vermögend und lassen mir immer wieder etwas zukommen. Ihre Klinik in Thüringen, die wirft schon etwas ab.«

      Was sollte er da sagen. Sie verwöhnte ihn nach allen Regeln der Kunst. Als er bei ihr in der Kantstraße auf dem Sofa saß, zeigte sie auf ihren Schreibtisch, zog einen kleinen Schlüssel aus ihrer Handtasche und hielt ihm den hin: »Na, möchtest du mal aufschließen und nachsehen, was da drin ist. Nein …« Sie nahm ihm den Schlüssel wieder weg. »Ich will mir die Vorfreude nicht verderben.« Stattdessen holte sie eine Reihe von Geschenken aus dem Schrank. »Für dich … vom Nikolaus. Zuerst den Hut.« Sie setzte ihn Muschan auf den Kopf, und er passte wie angegossen. »Von meinem Schwiegervater aus der Ostzone. Er kommt immer noch, obwohl Wilhelm, mein Mann, sein Sohn, schon so lange tot ist. Und die Gummihosenträger hier, die hat er auch dagelassen. Nimm die und wirf deine in den Müll, die sind doch schon so furchtbar ausgeleiert.«

      Es klingelte. Eine Lieferantin brachte ein sechsteiliges Silberbesteck. Elisabeth hielt es ihm hin. »Das schenke ich dir zu Weihnachten, damit du was für deine Uschi hast.«

      Kurt Muschan war überwältigt. Und zutiefst erschrocken. Er wollte ja von dieser Frau wirklich nur das eine … und nun liebte sie ihn mit all ihrer Kraft. Aber dass er Uschi und seine Kinder ihretwegen verließ, erschien ihm ausgeschlossen. Wenn sie ihn nun erpresste?

      Dir wird schon was einfallen, dachte er, schließlich bist du bei der Kripo … Wenn man in diesen Tagen eine Leiche kunstgerecht zerlegte und irgendwo in Ost-Berlin versteckte, war das Risiko gering.

      Dorothea Merten verkaufte gerne Schreibmaschinen und hatte ein quasi erotisches Verhältnis zu vielen von ihnen, jedenfalls durchströmten sie angenehme Gefühle, wenn sie die monströsen Gebilde anschauen und probieren durfte. Eben hatte sie ein Wort gedacht, da stand es auch schon auf dem Papier. Wie gedruckt und für die Ewigkeit geschaffen, ein Wunderwerk von Menschenhand, ein Geschenk der Götter. Obwohl sie die Mechanik bis ins Einzelne durchschaute, war das Ganze etwas Magisches für sie. Zauberei. Nur wer eine Schreibmaschine besaß, zählte bei ihr, wer seine Briefe mit der Hand verfasste, war auf der Stufe der Primaten und der Neandertaler verblieben. Berührte sie die Tasten, war sie so glücklich wie ein Kind, dem man Farbstifte und einen Block gegeben hatte: Sie konnte sich öffnen und ihrer Phantasie freien Raum lassen, sich so richtig austoben und alles herauslassen, was sich in ihrem Unbewussten angesammelt hatte. Urschreie ausstoßen, Märchen erzählen, schöpferisch sein, sich eigene Welten schaffen. Immer wieder versuchte sie es in freien Stunden mit Gedichten, Kurzgeschichten und nun sogar einem richtigen Roman. Blind schreiben

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