Leben im Sterben. Romana Wasinger
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Geschenke der Vergangenheit
Was immer deine Erinnerungen dir auch erzählen:
sie sind die Geschenke der Vergangenheit an dich,
kleine Kostbarkeiten, die dir ganz alleine gehören.
Ich wünsche dir den Mut, sie in dein Herz zu rufen,
wenn du dich nach ihnen sehnst.
Aber auch die Kraft, sie wieder in dein Innerstes zurückzulegen,
wenn das Leben deine ganze Aufmerksamkeit braucht. 20
Es ist für mich immer wieder beeindruckend mitzuerleben, dass sich Patienten, die nach Aussagen von überweisenden Ärzten vermutlich in den nächsten Tagen versterben werden, doch noch erholen können. So mancher von ihnen erlebte bei uns noch wertvolle Zeit, von der er glaubte, sie eigentlich nicht mehr zu haben. Spricht man mit diesen Menschen, so bekommt man immer wieder sehr ähnliches zu hören. Bei uns sei alles so anders als in Krankenhäusern, hier sei es so schön, hier kämen sie endlich zur Ruhe und die meisten sagen auch, dass wir Schwestern ganz anders sind, als das Personal im Krankenhaus. Ich vermute aber, wir sind gar nicht so anders als die Schwestern in Krankenhäusern. Der Unterschied ist, dass wir aufgrund unseres speziellen Personalschlüssels einfach viel mehr Zeit für die Betreuung unserer Patienten zur Verfügung haben. Außerdem geht es in Hospizen nicht darum, die Lebenszeit der Patienten um jeden Preis zu verlängern, sondern die verbleibende Zeit so wertvoll wie möglich zu gestalten. Wir betrachten Sterben als zum Leben gehörend und den Tod nicht als Feind. In Krankenhäusern hingegen gilt es, Leben zu retten und zu erhalten. Scharen von verletzten oder kranken Menschen werden täglich behandelt oder aufgenommen und betreut, Krankheiten werden diagnostiziert, therapiert und oft auch geheilt. Auf mich wirken Krankenhäuser ähnlich wie Bienenstöcke. Es „summt und brummt“, oft wuseln viele Menschen durch die Gänge und Stationen, selten herrscht jene Stille, die man als angenehm und beruhigend empfindet. Es dominieren Stimmungen, Gerüche und Geräusche, die vielen Menschen ein mulmiges Gefühl verursachen. Krankenhäuser sind Orte, die bestimmt von sehr vielen Menschen eher ungern betreten werden. Am wohlsten fühlt man sich hier in der Regel noch als Besucher. Ist man selber Patient oder gerade dabei, einer zu werden, verursacht das aller Wahrscheinlichkeit nach in den meisten Fällen Unbehagen oder Angst, denn man weiß ja nicht so recht, was einen hier erwartet. Wohl jeder Patient hofft, so schnell wie möglich wieder gesund zu werden, um wieder nach Hause gehen zu können.
In einem Krankenhaus ist man auch heute manchmal noch z. B. „die Galle“ oder vielleicht „der Magen“ von Zimmer 20. Ich habe während meiner Ausbildungen insgesamt zwei Jahre auf verschiedenen Stationen in mehreren Krankhäusern und in Pflegeheimen verbracht und selbst diese und ähnliche Aussagen von Ärzten und Pflegepersonen gehört. Erschreckend, nicht? Wären Sie gerne „die Galle“ oder „der Magen“ vom Zimmer 20? Bestimmt nicht, würde ich meinen. Wir alle haben doch nicht nur eine Krankheit! Wir alle haben auch einen Namen, unsere Persönlichkeit, Ängste, Schmerzen, Wünsche, Ziele, Hoffnungen. Besonders wenn wir leiden, wollen wir ernst und wichtig genommen, respektiert und verstanden werden. Wir wollen ein Mensch bleiben, unsere Individualität behalten und nicht zu einem „Fall“ werden.
Für Sterbende ist die Zeit verändert: Sie sind sich ihrer Zukunft nicht mehr sicher. Umso wertvoller – weil plötzlich begrenzt und knapp – wird die gegenwärtige Zeit. Sterbende erfahren, dass Leben sich nicht in die Zukunft verschieben lässt.21
Herr A. – Lachen, Pfiffe und viel Trubel
Herr A., er wollte von Anfang an von uns Schwestern mit „du“ und seinem Vornamen angesprochen werden, wurde damals im Juni auf unserer Station aufgenommen. Er war 59 Jahre alt, verheiratet, hatte eine erwachsene Tochter und viele Freunde, die ihn alle gerne und oft besuchten. Max, wie wir ihn hier nennen wollen, litt seit kurzem an einem sehr ungünstig gelegenen und somit inoperablen, rasch wachsenden Gehirntumor, der ihn innerhalb kürzester Zeit zu einem Pflegefall gemacht hatte. Als er zu uns kam, brauchte er in allen Bereichen des täglichen Lebens Unterstützung. Er konnte sich nicht mehr alleine pflegen oder sein Bett verlassen. Max war noch vor wenigen Monaten ein „Hans Dampf in allen Gassen“ gewesen, ein überaus fröhlicher, lebenslustiger Mensch, der viel gearbeitet hatte, in seiner Freizeit ständig unterwegs war und zahlreiche soziale Kontakte pflegte. Jetzt war er plötzlich zum Liegen und zur Unselbständigkeit verdammt, galt als austherapiert und hatte keine Hoffnung mehr, wieder gesund zu werden. Obwohl er mit seinem Schicksal haderte, war er bereit, es anzunehmen und das Beste daraus zu machen. Er war ein gut aufgeklärter Patient, der wusste und dies auch öfter aussprach, dass er unsere Station nicht mehr lebend verlassen würde. Da Max ein leidenschaftlicher Raucher war, brachten wir ihn täglich mehrmals zum Rauchen in unseren Wintergarten. So lernten ihn bald alle Schwestern, auch die der Nachbarstation kennen, ebenso alle Patienten und Angehörigen, die sich ebenfalls öfter einmal für eine Zigarettenpause im Wintergarten einfanden. Alle, die Max kennen lernten, fanden ihn sympathisch, denn er lachte oft und gerne, konnte sogar über sich selbst und seine schwere Krankheit lachen. Er erzählte gerne Geschichten aus seinem aufregenden Leben, seinen häufigen Urlauben, und mit besonderer Hingabe erzählte er von seinem Segelboot, auf das er so besonders stolz war. Manchmal zeigte er mir auch Fotos von seinem wunderschönen Haus, das er mit seinen eigenen Händen erbaut hatte. Oft sagte er zu mir: „Komm Romy, gemma ane rauchn.“ Dann brachte ich ihn in den Wintergarten zum Rauchen. Da wir im Wintergarten keine Glocke anschließen können, besorgten wir für Max ein „Pfeiferl“ und so pfiff er jedes Mal, wenn er etwas von uns wollte. Bald wusste jeder, was dieses ungewöhnliche Geräusch, der Pfiff, bedeutete – Max wollte etwas. Max pfiff gerne, oft, lange und laut drauf los und rief dann mit seiner mächtigen Stimme, die über den ganzen Gang hallte, seine Wünsche jener Person entgegen, die gerade über den Gang in seine Richtung ging. In den Wochen, in denen wir Max betreuten, war also fast immer etwas los auf unserem sonst eher ruhigen Gang.
Max hatte eine mitreißende und überaus humorvolle, liebenswerte Art, die scheinbar bei all seinen Mitmenschen großen Anklang fand. Er war ein außergewöhnlicher Mensch. Wir alle mochten ihn, denn er war sehr sympathisch und trotz seiner schweren Erkrankung immer noch ein dynamischer Mann. Obwohl er nur noch wenig Zeit zu leben hatte und ihn dies manchmal sehr nachdenklich und traurig stimmte, versprühte er oft unsagbare, mitreißende Lebensfreude. Wann immer Max Lust hatte, setzten wir ihn in einen Rollstuhl, und so konnte seine Familie mit ihm Spaziergänge unternehmen, mit ihm durch das große Haus fahren oder eine fröhliche Stunde in der Kantine