Leben im Sterben. Romana Wasinger
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Manchmal ist nur eine der genannten Schmerzdimensionen betroffen, aber oft tauchen die verschiedenen Schmerzen gleichzeitig auf, wirken aufeinander ein und bedingen dadurch die Intensität des empfundenen Schmerzes. Schmerzen sind lebensnotwendige Alarmgeber zum Selbstschutz des Organismus. Obwohl Schmerz ein allgegenwärtiges Phänomen ist, entzieht es sich einfachen und eindeutigen Definitionen. Er lässt sich zunächst, rein psychologisch, als Sinneswahrnehmung beschreiben, als Wahrnehmung, dass der Körper Schaden nimmt oder zu nehmen droht. Schmerz ist aber nicht nur eine reine Sinneswahrnehmung, hinzu treten emotionale und bewertende Elemente, die den Schmerz z. B. als bedrohlich oder quälend, bedeutend oder nebensächlich einordnen und den Umgang mit ihm bestimmen. Schmerz ist ein psycho-physisches Erlebnis, in das persönliche Schmerzerfahrungen und der soziale, ökonomische und kulturelle Hintergrund einfließen. Daher ist Schmerz ein individuelles Ereignis, das nur bedingt mitteilbar ist. Außerdem zeigt die klinische Erfahrung, dass Schmerzen auch ohne (drohende) Gewebeschädigung auftreten können. Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potentieller (möglicher) Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird. (Definition der Internationalen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes).32
Gibt es einen Schmerz, ein Problem, das stärker im Zentrum der Frage nach der eigenen Existenz steht als das Sterbenmüssen? Gibt es eine Schmerztherapie, eine Befreiung, eine Lösung für das Sterbenmüssen – angesichts des Todes? Und kann deshalb das Wissen oder Ahnen um das Sterben nicht viele der vorher verfügbaren Bewältigungsmöglichkeiten rauben oder angesichts der physischen Realität von Krankheit, Schwäche, Verstümmelung und Müdigkeit entmachten? 33
Total Pain
Jeder Schmerz ist eine subjektive Wahrnehmung, ein unterschiedlich erlebtes Gefühl, das aus verschiedenen Ebenen und Dimensionen besteht, die sich summieren und gegenseitig beeinflussen im Sinne des „totalen Schmerzes“ – Total Pain.34
Total Pain umfasst das Abschiednehmen des schwer kranken und sterbenden Menschen von seiner Umwelt, seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und seiner eigenen, bisher erlebten Personalität. Dies kann zu heftigen Gefühlsreaktionen führen, die nicht im Rahmen einer herkömmlichen Schmerzbehandlung und/oder Psychotherapie anzugehen ist. 35
In Hospizen und auf Palliativstationen ist die Linderung der teilweise enorm belastenden körperlichen Beschwerden ein wesentlicher Bestandteil der Betreuung der sterbenden Menschen. Jede Maßnahme wird auf ihre Notwendigkeit geprüft, um die Kranken nicht unnötig zu belasten. Ebenso erfolgt die Pflege individuell, sie richtet sich also stets nach den Bedürfnissen der Patienten.
Manchmal werden Schmerzen so bedeutend, dass sie das ganze Leben des Kranken bestimmen. 36
In meinem privaten und beruflichen Umfeld mache ich immer wieder die Erfahrung, dass Schmerzen das Verhalten von Menschen stark beeinflussen und verändern können. Dies ist bestimmt eine Beobachtung, die jeder Mensch an sich selbst und in seinem Umfeld machen kann. Ich selbst benehme mich schon anders, wenn mich kleine, lästige „Wehwehchen“ plagen. Als ich einmal viele Monate lang ernsthaft krank war, war ich manchmal wütend, manchmal traurig, oft sehr müde und meist zog ich mich zurück und wollte in Ruhe gelassen werden. Diese Gefühlsschwankungen und den Rückzug konnte ich auch schon bei vielen meiner Patienten beobachten.
Univ.-Doz. Franz Schmatz schreibt in einem seiner Bücher zum Thema „Menschen mit Schmerzen“ folgendes: Menschen mit Schmerzen sind unangenehm. Weil sie ihre Umgebung herausfordern und unsicher werden lassen, landen sie oft in der Vereinsamung. Auch der schmerzerfüllte Mensch selber gerät in eine sonderbare Rolle: es schwinden Konzentration, Leistungskraft, Interesse und Stärke und alles erscheint ungewohnt, belastend, kraftlos und resignativ. Oft stellen sich Wut auf den eigenen Körper, Neid auf die Gesunden und ohnmächtige Peinlichkeit ein. Da Menschen mit Schmerzen mit ihrer neuen Situation noch überhaupt nicht umgehen können und es auch die Umgebenden nicht schaffen, entstehen oft Distanz, Rückzug, Isolation und Abwehrhaltungen. Es ist ein Zeichen von Hoffnung, dass die Schmerzbekämpfung nach langem Zögern auch bei uns besser und effektiver wird. Aber ebenso wichtig, ja voraussetzend ist es notwendig, Menschen in ihrem Schmerz, mit ihrem Schmerzerleben ernst zu nehmen und sie in der durch den Schmerz geänderten Situation abzuholen. Niemand hat das Recht, anderen den Schmerz abzusprechen, Schmerzen zu bagatellisieren oder auszureden. Der sich selbst fremd und der Umgebung unangenehm gewordene leidende Mensch braucht es, in der eigenen Not wahrgenommen zu werden. Das gilt nicht nur für Sterbende, sondern in allen Phasen und Situationen des Lebens.37
Neben all den möglichen körperlichen Beeinträchtigungen können sterbende Menschen auch unter großem psychischen Leidensdruck stehen. Als Begleiterin unheilbar kranker, sterbender Menschen konnte ich häufig das Gefühlschaos miterleben, das viele Patienten quält. Dem Tode nahe Menschen leiden beispielsweise an:
vielfältigen Ängsten
Depression
Verzweiflung, Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit
Hilflosigkeit; dem Gefühl, plötzlich von anderen abhängig zu sein
dem Gefühl, alles und alle zu verlieren
dem Gefühl, keine Zukunft mehr zu haben
Zorn, Wut, Aggression
ungelösten Konflikten aus der Vergangenheit
Sorgen um die Familie, die zurückgelassen wird
finanziellen Sorgen.
Angst vor dem Sterben?
Den nahenden Tod vor Augen empfinden wohl viele oder gar die meisten Menschen zunächst einmal Angst: Angst vor Schmerzen, langem Leiden, Siechtum, großen Verlusten, vor dem Alleinsein, vor dem Sterben, aber auch vor dem Tod bzw. dem, was uns nach dem Sterben erwartet. Wenn man sich die vielfältigen möglichen Ängste vor Augen führt, kann man besser verstehen, was es für einen Menschen bedeutet, sterbenskrank zu sein. Es lohnt sich, darüber nachzudenken.
Menschen, bei denen Krebs oder eine andere lebensbedrohliche Krankheit diagnostiziert wird, unterliegen erheblichen Stimmungsschwankungen. Sie empfinden oft Angst oder Zorn, sie neigen zu Selbstmitleid und leiden unter dem Gefühl, keinerlei Macht mehr über ihr Leben zu haben. Sie sind erschrocken über das emotionale Auf und Ab. 38
Eine beängstigende Diagnose oder das ungünstige Ergebnis einer Untersuchung kann den Betroffenen in seiner ganzen Existenz erschüttern, und bei jeder neuen Untersuchung können sich im Unterbewusstsein oder Hintergrund Gedanken an den Tod melden. Wenn hier von der „Existentiellen Dimension“ die Rede ist, dann meint dies die Betroffenheit des Daseins als Mensch überhaupt, die Erfahrung, dass das Selbst ungesichert und in seinem Dasein begrenzt und vom Tod bedroht ist.39
Im Lauf der vergangenen Jahre habe ich mich selbst und auch viele andere Menschen gefragt, wie sie am liebsten sterben möchten. Hier einige der Antworten: „Bei klarem Verstand“, „Hauptsache ohne Schmerzen“, „Ohne jemandem zur Last zu fallen“, „In meiner gewohnten Umgebung“, „Im Beisein meiner Angehörigen“, „Lieber etwas früher, als alt und krank“, „Einschlafen und nicht mehr aufwachen“, „Einfach