Leben im Sterben. Romana Wasinger
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Elisabeth Kübler-Ross, die wohl bekannteste Sterbeforscherin, dachte ähnlich, sie schrieb: Die Verleugnung des Todes ist teilweise dafür verantwortlich, dass Menschen ein leeres, zweckloses Leben leben; denn wer lebt, als würde er ewig leben, dem fällt es allzu leicht, jene Dinge aufzuschieben, von denen er doch weiß, dass er sie tun muss. Lebt einer sein Leben in Vorbereitung auf morgen oder in Erinnerung an gestern, geht inzwischen jedes Heute verloren. Wer aber im Gegenteil wirklich begreift, dass jeder Tag, an dem er erwacht, sein letzter sein könnte, der nimmt sich die Zeit, an diesem Tag zu reifen, mehr zu dem zu werden, der er wirklich ist, und anderen Menschen die Hand entgegenzustrecken und ihnen offen zu begegnen.2
Ich kenne seit einigen Jahren auch jene Seite des Lebens, die wir Sterben nennen, denn ich arbeite in einem Hospiz und begleite unheilbar kranke Menschen, die nicht mehr viel Zeit zu leben haben. Viele von ihnen würden alles dafür geben, wenn sie gesund sein und „einfach nur leben“ könnten.
„Leben, ich will einfach nur wieder gesund sein, nach Hause gehen und leben.“ Das sagte mir erst vor kurzem eine unheilbar kranke, 45jährige Frau wenige Tage vor ihrem Tod. Sie war voll Sehnsucht, hoffte, wieder gesund zu werden, um leben zu können und hatte gleichzeitig große Angst vor dem Unbekannten, Unbegreiflichen, das unweigerlich und unaufhaltsam in großen Schritten auf sie zukam. Tief in ihrem Innersten wusste sie wohl, dass sie bald sterben würde, denn ihr Körper war inzwischen viel zu geschwächt und nicht mehr bereit, sie bei ihrem Kampf um dieses Leben zu unterstützen. Mir erschien es, als wäre diese Frau in einem wahren Irrgarten von Gefühlen gefangen. Sie wollte noch so vieles erleben und erledigen und davon wollte sie nicht durch den Tod abgehalten werden. Sie konnte die für sie so überaus schmerzvolle Tatsache des unaufhaltsam nahenden Todes nicht verstehen und wollte daher nicht wahrhaben, dass ihr Leben zu diesem Zeitpunkt bereits fast zu Ende war. Wenige Tage später starb sie, die Natur hatte ihren Kampf beendet.
Es ist zu beobachten, dass manchen Menschen der Abschied besonders schwer fällt. Nach Kübler-Ross sind es jene, die nicht wirklich gelebt haben, die Vorhaben unerledigt gelassen haben, Träume unerfüllt, Hoffnungen zerstört und die die wirklichen Dinge im Leben an sich haben vorüberziehen lassen (andere zu lieben und von ihnen geliebt zu werden, zum Glück und Wohlbefinden anderer Menschen positiv beizutragen, herauszufinden, wer das denn wirklich ist: man selbst), die am meisten zögern, sich auf den Tod einzulassen.3
Da ich mich berufsbedingt sehr häufig mit Krankheiten, Sterben und Tod befasse, wollte ich nun auch einmal sehen, wie dieser mir so unbeschreiblich erscheinende Begriff „Leben“ von Fachleuten definiert wird. Wir alle wissen, was mit diesem Wort gemeint ist, denn Leben ist eigentlich etwas ganz Selbstverständliches. Wir alle haben einen mehr oder weniger gut funktionierenden Körper, sind hier, denken, fühlen und leben. So einfach ist das. Trotzdem lässt sich dieses „Dasein“ nur schwer in Worte fassen. Man hat im Lauf der Zeit schon unzählige Male versucht, es philosophisch und wissenschaftlich zu erklären. Beim Durchblättern etlicher Bücher und bei meiner Suche im Internet konnte ich allerdings bald feststellen, dass es selbst für Experten gar nicht einfach ist, Leben zu definieren. Meist verwendet man dazu eine mehr oder weniger lange Liste bestimmter Merkmale.
Leben ist jene charakteristische, schwierig zu definierende Eigenschaft, die Lebewesen von bloßer Materie unterscheidet. Wesentliche Merkmale sind Wachstum, Fortpflanzung, Stoff- und Energieaustausch mit der Umwelt.4
Im Lauf der Geschichte wurde der Begriff „menschliches Leben“ unterschiedlich interpretiert. Es besteht ein allgemeiner Konsens darüber, dass menschliches Leben sich vom Leben der Tiere und Pflanzen unterscheidet und nicht in beliebiger Verfügbarkeit des Menschen steht. Leben in dieser Welt braucht die Materie. Menschsein heißt also, Materie sein. Dies bedeutet, einerseits einen Körper zu haben und gleichzeitig auch „mit Geist begabt zu sein“. Der Mensch verfügt über Körper und Geist. Menschlicher Geist oder die Fähigkeit zu denken und zu fühlen sind an körperliche Funktionen geknüpft. Sie sind von Intelligenz und Bewusstsein wie auch von physiologischen Vorgängen abhängig. Darüber hinaus zeigt die menschliche Erfahrung, dass der Mensch auch eine Seele (Psyche) hat. Die Seele ist „das Innere der Dinge, das Wesen, das zutiefst Bedeutungsvolle“.
Das medizinisch-naturwissenschaftliche Menschenbild (kartesianisches Menschenbild) betont die biologischen und chemischen Funktionen, die den Organen und den dort arbeitenden Zellen zugeordnet werden. Das sozialwissenschaftliche Menschbild betont, dass der Mensch nur in Gemeinschaft mit anderen Menschen leben und überleben kann. Das holistische (ganzheitliche) und humanistische Menschenbild (geisteswissenschaftliche Menschenbild) betont die Einheit aus drei unterschiedlichen Lebensbezügen: Körper, Seele und Geist. Alle drei stehen in stetiger Wechselwirkung untereinander. Diese Sichtweise hat sich seit den 80er Jahren in der Pflege immer mehr durchgesetzt. 5
Auf der Suche nach einer Definition findet man unzählige Bemühungen der Wissenschaft um die Beschreibung des Begriffes Leben. Es gibt unterschiedliche philosophische Konzepte von der Antike bis in die Jetzt-Zeit. Letztendlich geht es immer um Listen von Merkmalen, die Leben auszeichnen: Bewegung, Selbsterhaltung oder Fortpflanzung, Selbstorganisation und Stoffwechsel. Auch Regulation und ein aus Teilen bestehender komplexer Organismus werden genannt. Reichen diese Kriterien aus? Es ist verrückt, aber eine ganze Reihe von Eigenschaften, die lebenden Wesen zugeschrieben werden, gelten offensichtlich auch für unbelebte Gegenstände. Robert Hazen vom Carnegie Institut in Washington hat die Frage nach der Definition von Leben in seinem Buch „Genesis“ diskutiert. Er kommt darin zu dem Ergebnis, dass unter den vielen Definitionen, die im Umlauf sind, kaum welche übereinstimmen. Offenbar ist es für die Wissenschaft nicht einfach, hieb- und stichfest zu definieren, was Leben ist. Die NASA hat deshalb im Jahr 2000 eine hochrangige Kommission eingesetzt, um eine solche Definition zu entwickeln. Das Ergebnis: das Leben ist ein chemisches System. Leben hat nach der NASA-Variante immer eine stoffliche Grundlage. Es funktioniert durch den Ablauf chemischer Reaktionen. Außerdem hat es die Fähigkeit, sich an eine veränderliche Umwelt anzupassen, denn Lebewesen vererben ihre Merkmale an ihre Nachkommen. Dabei kommt es durch Mutationen im Erbgut immer wieder zu Veränderungen. Wenn dadurch ein Merkmal entsteht, das einen Selektionsvorteil bietet, setzt sich diese Veränderung durch. Diese Art der Anpassung ist etwas, das leblose Dinge definitiv nicht können.6
Wie sie anhand dieser wenigen Beispiele sehen können, ist es schwierig, etwas so Selbstverständliches wie „Leben“ zu definieren. Hochrangige Experten sagen, es ist ein chemisches System mit einer stofflichen Grundlage. Aber ist es nicht viel, viel mehr? Ist Leben nicht ein unbegreifliches und somit nicht definierbares Wunder?
Was bedeutet „Sterben“?
… es ist nicht eigentlich das Sterben, was so schwer ist. Für das Sterben braucht man keine Fertigkeiten und keine besondere Einsicht. Jeder bringt es fertig. Zu leben ist schwer – zu leben, bis man stirbt, ob der Tod nun unmittelbar bevorsteht oder weit entfernt ist, ob man selber stirbt oder jemand, den man liebt. 7
Die kürzeste Definition von „Sterben“ lautet: Sterben ist aufhören zu leben. Mit dem Begriff Sterben bezeichnen wir also jene Zeit am Ende eines Lebens, die den Übergang zum Tod darstellt. Sterben, sofern es nicht plötzlich und unerwartet geschieht, ist nach meinen Erfahrungen eine vielschichtige und intensive Phase des Lebens. In der Fachliteratur wird Sterben beispielsweise folgendermaßen definiert:
Biologische Grundlagen von Sterben und Tod. Zellen sterben, sobald ihre Fähigkeit erlischt, sich an Umwelteinflüsse und Schädigungen anzupassen. Der Zelltod ist durch den irreversiblen Funktionsverlust