Leben im Sterben. Romana Wasinger

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Leben im Sterben - Romana Wasinger

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Buch lesen oder ihn philosophisch vom bequemen Sessel aus diskutieren. Die Gefühle der Machtlosigkeit und Isolierung entspringen unserem ganzen Wesen und nicht bloß unseren intellektuellen Vorstellungen. Das Problem des Todes erreicht im Allgemeinen nicht das Zentrum unseres Seins. Nur wenn es „mein“ bevorstehender Tod oder der bevorstehende Tod von jemandem ist, den ich liebe, spüre ich den schmerzenden Stich des „Hungers nach Leben“. Die Seele dessen, der von seiner Anhänglichkeit ans Leben gefoltert wird, liegt in Qualen; diese Foltern gehen durch unser ganzes Sein und lassen uns in der einen Minute bis ins Herz erschauern und im nächsten Moment in Fieberschweiß ausbrechen. Das ist unser verzweifelter Kampf: uns am Leben festzuklammern, während wir über den Rand des Todes gleiten. Hier liegt das Selbst im Kampf mit dem Nicht-Selbst. Die konkrete Möglichkeit unseres eigenen unmittelbar bevorstehenden Todes ist ein derartiger Schock, dass unsere erste Reaktion das Verleugnen sein muss. 17

      Phasenmodelle erscheinen plausibel, keines von ihnen liefert allerdings immergültige Regeln. Die Modelle können Pflegenden und Sterbebegleitern zum grundlegenden Verständnis von Abläufen dienen, denn Sterben ist in jedem Fall als individuell zu betrachten. Elemente der Phasenlehren können aber sehr gut genutzt werden, um Sterbende und ihre Bedürfnisse besser verstehen zu können.

      Es ist 18.45 Uhr. Ich sitze aufgewühlt, müde und doch gleichzeitig hellwach am Bett von Herrn P., der vor wenigen Momenten verstorben ist. Ich bin noch gar nicht in der Lage, die vielen Eindrücke dieses für mich sehr anstrengenden Arbeitstages, der größtenteils der Begleitung von Herrn P. gewidmet war, zu erfassen. An meinen Armen sind viele Abdrücke von den Fingernägeln meines Patienten zu sehen. Er hatte sich an diesem Tag, dem letzten seines Lebens, mehrmals aufgebäumt, sich mit aller Kraft in meinen Armen und Schultern festgekrallt und seine Fingernägel dabei tief in mein Fleisch gegraben. Die Abdrücke sind inzwischen ein bisschen angeschwollen, rot und die verletzte Haut brennt.

      Ich denke nach. Heute war ein eigenartiger Tag in meinem Leben als Hospizschwester, denn Herr P. ging auf für mich ungewöhnliche Art mit seinem Sterben um. Er hat heute stundenlang verbissen, kraftvoll und stumm gekämpft, mit all seiner körperlichen Kraft, die er noch zur Verfügung hatte. Ich weiß aber nicht, ob er für oder gegen seinen Tod gekämpft hat. Ein solches Sterben hatte ich noch nicht miterlebt. Ich kann es noch gar nicht richtig begreifen, dass er wirklich gerade gestorben ist und bleibe daher noch einige Minuten an seinem Bett sitzen. Das Gesicht von Herrn P. wirkt jetzt endlich entspannt, so als hätte er nun seinen Frieden gefunden. Ich betrachte dieses Gesicht, das von schweißnassen Haaren umrahmt ist, während seine Hände noch in meinen ruhen. Nach einigen Minuten stehe ich auf, öffne die Vorhänge und die Tür zum Garten. Diese Handlung ist für mich symbolisch – die Seele ist nun frei und kann den Raum verlassen. Danach wasche ich ein letztes Mal das Gesicht von Herrn P. und kämme seine verklebten und verschwitzten Haare, ein letztes Mal lagere ich seinen ausgemergelten Körper, dann muss ich gehen. Mein Dienst ist gleich zu Ende und ich sollte schon seit einigen Minuten die Dienstübergabe an meine Nachtdienstkollegin machen. Eigentlich hatte ich um halb sieben meine Arbeit auf der Station beendet und wollte nur noch rasch die Pflegedokumentationen fertig schreiben, bevor ich die Dienstübergabe mache. Ich weiß nicht, warum ich dann doch noch einmal in das Zimmer von Herrn P. ging. Wahrscheinlich sollte es einfach so sein, dass er in meinem Beisein verstarb, nachdem wir diesen ganzen Tag miteinander durchgestanden hatten. Jetzt schiebe ich den Medikamentenwagen vor mir her und gehe über den langen Gang zu unserem Dienstzimmer, dabei treffe ich meine Kollegin vom Tagdienst. Sie ist völlig überrascht, als ich ihr sage, dass Herr P. gerade verstorben ist. Wir gehen gemeinsam mit der Kollegin, die Nachtdienst hat, nochmals in das Zimmer des gerade Verstorbenen und betrachten sein friedliches Gesicht. Wir sehen uns an und wissen, ohne es auszusprechen, dass wir erleichtert sind, dass Herr P. endlich sterben konnte.

       Loslassen

       Wenn ich festhalte,

       bin ich gefangen, gelähmt,

       erstarrt, energielos, blockiert

       unfrei, ständig im Gestern und

       dem Leben immer ferner.

       Wenn ich loslasse,

       bin ich gereinigt, befreit,

       lebendig, voller Energie, offen,

       zugänglich, im Jetzt, spontan

       und so mitten im Leben. 18

      Da ich Herrn P. während des ganzen Tages viele Stunden lang begleitet habe, rufe ich seine Ehefrau an, um ihr vom Tod ihres Mannes zu berichten. Sie weiß seit Wochen, dass „es“ jeden Tag soweit sein konnte, trotzdem bricht sie unter der Last meiner Worte fast zusammen. Ich spüre förmlich ihre Ohnmacht, ihre Fassungslosigkeit, ihren großen Schmerz und höre ihr hemmungsloses Weinen. Sie ist gerade bei Freunden, diese werden sie dann für ein letztes Abschiednehmen zu ihrem verstorbenen Mann bringen. Nach diesem aufwühlenden Gespräch rufe ich noch das Bestattungsunternehmen an und erledige die nötigen schriftlichen Arbeiten. Erst dann übergebe ich meiner Kollegin den Dienst. Kurz überlege ich noch, ob ich auf das Eintreffen der Ehefrau warten soll, entscheide mich aber dann doch dagegen. Der Tag ist für mich sehr lange und sehr anstrengend gewesen, er hat mich viel Kraft gekostet. Also gehe ich jetzt endlich nach Hause, denn ich weiß nicht, ob ich jetzt in der Lage wäre, auch noch die Ehefrau in ihrem Schmerz zu begleiten. Ich möchte das ganz einfach nicht mehr. Ich denke, ich habe für heute mehr als genug getan. Meine Reserven sind erschöpft. Erst beim Heimfahren wird mir bewusst, dass ich noch immer aufgewühlt und auch total überdreht bin. Ich laufe in gewisser Weise auf Hochtouren. Mein Körper ist sehr müde nach mehr als dreizehn Stunden Dienst, aber meine Gedanken galoppieren wild durcheinander. Zuhause schenke ich mir ein Glas Prosecco ein und setze mich alleine eine Weile in den Garten. Ich will zur Ruhe kommen, versuchen zu entspannen und nachdenken. Außerdem will ich im Moment nichts hören, auch nichts von meinen Angehörigen, die meinen momentanen Zustand nicht verstehen könnten. Ich lasse den Tag nochmals Revue passieren und denke auch an die letzten Wochen, während derer wir Herrn P. auf unserer Station betreuten.

      Herr P. war Mitte 50, ein kleiner drahtiger Typ mit sonnengebräunter Haut und wilden Locken. Er hat in seinen jungen Jahren viel von der Welt gesehen und sich vor einigen Jahren mit seiner Frau in ein ruhiges, naturverbundenes Leben abseits vom lauten Leben einer Großstadt zurückgezogen. Die beiden hatten sich bewusst für ein Leben in der Natur und der Ein-, oder besser gesagt, Zweisamkeit entschlossen. Dann kam es, völlig überraschend für die beiden, zu der niederschmetternden Diagnose Krebs in weit fortgeschrittenem Stadium. Herr P. nahm diese Diagnose zur Kenntnis und lehnte jede Therapie ab. Er verließ das Krankenhaus und ging nach Hause. Einige Wochen wurde er während seiner schweren und rasch voranschreitenden Krankheit zuhause betreut, dann, als er und seine Frau mit dieser Situation nicht mehr zurechtkamen, entschloss er sich, zu uns ins Hospiz zu kommen. Herr P. war zu dieser Zeit noch sehr gesprächig und erzählte gerne aus seinem Leben. Seine Frau besuchte ihn täglich und so konnten sie viel Zeit gemeinsam verbringen. Sein Zimmer hat Herr P. kein einziges Mal verlassen. Wir Pflegenden konnten das kaum verstehen, da er ja so naturverbunden war und sich früher immer gerne im Freien aufgehalten hatte, wie er selbst erzählte. Natürlich respektierten wir seinen Wunsch. Sein restliches Leben, oder richtiger gesagt, sein wochenlanges Sterben, geschah also in seinem auf seinen Wunsch abgedunkelten Zimmer. Herr P. wollte nichts mehr wissen von dieser Welt da draußen. Er konnte es nicht ertragen, diese sonnendurchflutete Welt zu sehen, an der er nicht mehr teilhaben konnte oder wollte. Es war gerade Frühling, viele Pflanzen blühten bereits in den prächtigsten Farben, es lagen wunderbare Düfte in der Luft, und die Vögel zwitscherten den ganzen Tag fröhlich vor sich hin. Aber Herr P. wollte all dies weder sehen noch hören. Er wollte

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