Leben im Sterben. Romana Wasinger
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Für uns Schwestern wurde die Pflege dieses Patienten bald zu einer großen Herausforderung. Herr. P. begann rund fünf Wochen vor seinem Tod alle pflegerischen Handlungen vehement abzulehnen. Er wollte weder gepflegt noch gelagert werden, er wollte seine Ruhe haben, aber dabei nicht alleine sein, er wollte sprechen, aber nichts hören, er wollte nichts mehr essen, er wollte keinerlei Ablenkung wie Radiohören oder Fernsehen, er wollte keinesfalls sein Zimmer verlassen, er wollte bald niemanden außer seiner Frau sehen. Er lehnte ehrenamtliche Besucher ab, bald durften wir in seiner Gegenwart nur noch flüstern, und einige Tage vor seinem Tod durften wir ihn nicht einmal aufwecken, wenn wir ihm die verschriebenen Medikamente spritzten.
Herr P. hatte sich in die Vorstellung verrannt, dass man, wenn man sterben will, sich nur einfach hinlegen und die Augen schließen muss. Bestimmt gibt es Menschen, bei denen es so oder ähnlich funktioniert, aber üblicherweise geschieht Sterben, so wie ich es schon unzählige Male hier im Hospiz miterlebt habe, doch etwas anders. Ein menschlicher Körper hält nämlich unglaublich viel aus, viel mehr, als man manchmal glauben könnte.
Jedenfalls wollte Herr P. plötzlich nichts mehr essen, verlangte nach immer höheren Dosen von Schmerz- und Schlafmitteln und wollte möglichst rasch „hinüberschlafen“. Bei diesem Vorgang wollte er von niemandem gestört werden. Uns Schwestern ertrug er vermutlich nur deshalb, weil es nicht anders ging. Wir alle, das sagte er manchmal, standen für den Tod, vor allem seinen Tod. Wir hatten in seiner Vorstellung nichts mit dem Leben da draußen zu tun. Trotzdem mochte er uns auf seine sehr spezielle Art, denn er wusste, dass er sich auf uns verlassen konnte, dass wir für ihn da waren, auch wenn er sich „schlecht“ benahm, wie er das nannte. Manchmal entschuldigte er sich auch und bat um unser Verständnis. Schließlich, so sagte er immer, liege er ja im Sterben und da könne man sich schon manchmal etwas seltsam benehmen. Wenn wir sein abgedunkeltes Zimmer betraten, lag er meist bewegungslos da und hatte über seine Augen ein Tuch gebreitet, damit er nichts mehr von dieser Welt sehen musste. So wollte er sterben. Zumindest sagte er das oft. Manchmal sprach er davon, wie ungerecht dieses Leben sei und wollte es dann doch wieder zurückhaben, dieses Leben.
Wir gingen im Team mit dieser für uns alle doch eher ungewöhnlichen und auch belastenden Situation so um, dass während jedes Tagdienstes nur noch eine Schwester zu ihm ins Zimmer ging, um sich um ihn zu kümmern. Herr P. konnte so manches Mal überaus fordernd sein und ließ häufig seinen Frust mit Worten an seiner Frau und auch an uns Pflegenden aus. Der Umgang mit ihm war meist nicht einfach. Es gab Tage, an denen wir gemeinsam lachten und auch solche, an denen er uns Schwestern mit seinem Verhalten an unsere Grenzen brachte.
An seinem Todestag war ich für seine Pflege zuständig. Morgens erhielt er von mir seine Medikamente, danach durfte ich ihn nach einigem Überreden waschen, sein Bett frisch beziehen und bequem lagern. Zu diesem Zeitpunkt erweckte sein Zustand bei mir nicht den Eindruck, dass dies sein letzter Tag sein würde. Herr P. war nach seinen Angaben schmerzfrei und hatte nur ein bisschen Probleme mit dem Abhusten. Am späteren Vormittag besprach er mit unserer Ärztin noch die laufende Medikation und ruhte sich danach aus. Ab mittags verschlechterte sich sein Zustand rapide. Er produzierte immer mehr Schleim, den er kaum abhusten konnte, und bekam anscheinend Schmerzen. Er sprach plötzlich kaum noch verständlich und wurde sehr unruhig. Bei einer neuerlichen Visite reagierte unsere Ärztin sofort und verabreichte die nötigen Medikamente. Herr P. wurde wieder ruhiger und schlief ein wenig. Am frühen Nachmittag spitzte sich die Situation zu. Der Patient wurde immer unruhiger, ständig fuchtelte er mit seinen Armen durch die Luft und begann damit, sich jedes Mal an mich zu klammern, wenn ich bei ihm war. Seine Worte waren inzwischen nicht mehr zu verstehen. Wieder kam unsere Frau Doktor und wir besprachen, was zu tun sei. Es war unser Ziel, dass Herr P. möglichst schmerz- und angstfrei sterben konnte. Es war nun abzusehen, dass sein Tod innerhalb kurzer Zeit, vielleicht sogar innerhalb der nächsten Stunden eintreten würde. Am späteren Nachmittag war ich fast ständig im Zimmer von Herrn P. Manchmal hielt ich ihn wie ein Baby in meinen Armen, während sich sein Oberkörper aufbäumte und er mit weit geöffnetem Mund und aufgerissenen Augen seine Fingernägel mit aller Kraft in meine Arme bohrte. Es waren auch für mich schlimme Stunden, denn ich konnte nichts anderes mehr für diesen Mann tun, als da zu sein und diese Stunden mit ihm gemeinsam überstehen. Das Gesicht des Sterbenden war nun meist zu einer Fratze verzerrt und ich konnte nichts gegen seine Unruhe tun. Häufig musste ich seinen Körper lagern, damit er es halbwegs bequem hatte. Kurz vor 18.00 Uhr begann sich Herr P. endlich zu entspannen und ruhiger zu werden. Ich verließ müde und abgekämpft sein Zimmer, um noch rasch zu meinen anderen Patienten zu gehen und danach die notwendigen schriftlichen Arbeiten zu erledigen. Kurz darauf hatte ich das Gefühl, ich müsste nun doch noch einmal zu Herrn P. gehen. Leise betrat ich sein Zimmer und setzte mich neben sein Bett. Er lag nun völlig entspannt und ruhig da. Ich wusste plötzlich, dass er sehr bald, vermutlich innerhalb der nächsten Minuten, versterben würde, also nahm ich wieder seine Hände in meine und blieb bei ihm sitzen. Ich sagte ihm, dass ich ihn nicht alleine lassen würde und er keine Angst haben müsse. Bald darauf hörte das Herz von Herrn P. für immer auf zu schlagen. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen hatte er nun endlich seinen Frieden gefunden. Der Kampf, sein Kampf, war nun endlich ausgefochten.
Heute, einen Tag nach dem Versterben des Herrn P. sitze ich hier und schreibe diese Zeilen. Ich habe Nachtdienst und nutzte die Zeit zwischen meinen Rundgängen auf der Station und den üblichen Routinearbeiten dafür. Ich bin froh und auch dankbar, dass ich den gestrigen Tag überstanden habe und dass ich heute niemandem bei seinem Sterben beistehen muss. Dafür würde mir im Moment die nötige Kraft fehlen.
Sterben als Lebensprozess
Sterben ist, das wissen wir, untrennbarer Bestandteil jeden Lebens. So wie jeder Mensch sein einzigartiges Leben lebt, so stirbt auch jeder Mensch seinen einzigartigen Tod. Die Situationen Sterbender sind stets individuell, je nach Alter, Lebensgeschichte, Erfahrungen, erlernten Strategien, sozialem, kulturellen und religiösen Umfeld, Art der Erkrankung, Symptomen und Krankheitsstadium. Bei der Begleitung, Betreuung und Pflege von Menschen in der letzten Lebensphase ist es notwendig, Sterben als Lebensprozess anzuerkennen. Die Selbstbestimmung der Betroffenen muss so lange wie möglich aufrechterhalten werden, Sterbende dürfen nicht entmündigt werden. Damit sie sich nicht als hilflos in ihrer Abhängigkeit fühlen, ist es wichtig, ihr Selbstwertgefühl zu stärken und zu erhalten. Professionell Pflegende ermöglichen es ihren Patienten, ihre Eigenarten zu bewahren und respektieren Sonderwünsche. Sie nehmen Gefühlsausbrüche, Wut oder Aggression nicht persönlich, sondern betrachten diese Gefühle als Ausdruck der Auseinandersetzung des Sterbenden mit dem nahenden Tod. Besonders in den letzten Stunden berücksichtigen die Pflegenden die Wünsche der Sterbenden, beispielsweise die Benachrichtigung von Angehörigen oder die Erfüllung religiöser Bedürfnisse.
Die Betreuung und Begleitung von Schwerkranken und Sterbenden in einer Institution des Gesundheitswesens erfordert vom Personal nicht nur die nötige fachliche Kompetenz, Engagement und reibungslos funktionierende Teams, sondern vor allem menschliche Qualitäten. Wir brauchen nicht nur eine fundierte Ausbildung, sondern auch Lebens- und Berufserfahrung, Mut, genügend Zeit, die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit, Mitgefühl und echtes Interesse an unseren Mitmenschen, wenn wir Sterbenden hilfreich beistehen wollen. Welchem Patienten nützt schon der fachlich erstklassig qualifizierte Mitarbeiter, egal ob Arzt, Pflegender, Seelsorger oder Therapeut, wenn dieser menschlich gesehen wenig zu geben hat? Wenn jemand schwerkrank ist, Schmerzen und Angst hat, vielleicht