Unterirdisches Österreich. Johannes Sachslehner

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Unterirdisches Österreich - Johannes Sachslehner

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      Ein Urteil also, das in der Bundesgebäudeverwaltung und dem Wirtschaftsministerium erstmals die Alarmglocken schrillen ließ.

      Der zweite Anstoß ließ prompt nicht lange auf sich warten – er erfolgte 1998 durch die Stadt Innsbruck. Da durch einsturzgefährdete Luftschutzstollen bereits unmittelbare Gefahr drohte und auch hier umstritten war, wer für die Sicherungsarbeiten aufkommen müsse, gab sie beim Innsbrucker Juristen Konrad Arnold ein Rechtsgutachten in Auftrag, das dieser am 1 . Juni 1999 gemeinsam mit Vizebürgermeister Norbert Wimmer und Baupolizei-Chef Theodor Greiner, dem Koordinator der Stollenuntersuchungen in der Tiroler Hauptstadt, der Öffentlichkeit präsentierte. Arnolds exakte, 140 Seiten umfassende Ausführungen, von Wimmer aufgrund der aufwändigen Faktensuche als „kriminalistisches Lehrstück“ gewürdigt, beseitigten alle Zweifel: Die Innsbrucker Stollen waren am 8. Mai 1945 „Deutsches Eigentum“ gewesen; die Eigentümerschaft der Republik war unbestreitbar. Am nächsten Tag titelte die Tiroler Tageszeitung: „Luftschutzstollen gehören dem Bund“, und verwies darauf, dass diese Erkenntnis keinen Tag zu früh komme, auf der Hungerburg sei soeben wieder ein Stollen eingestürzt, insgesamt sei es in den vergangenen zwei Monaten zu fünf Stolleneinbrüchen gekommen. Vizebürgermeister Wimmer, so erfahren die Leser, habe versprochen, „unverzüglich“ mit dem Bund Verhandlungen aufzunehmen.

      Aufgrund des Drucks aus Innsbruck musste der Bund nun handeln, und zwar schnell, drohten doch weitere Sicherungs- und Haftungsprobleme. In der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage bestätigte Bundeskanzler Viktor Klima, dass die Innsbrucker Stollen im „Eigentum des Bundes stehende Bauten“ seien; eine rasche bundesweite Lösung im Rahmen der angestrebten strukturellen Maßnahmen zur Neuorganisierung der Bau- und Liegenschaftsverwaltung des Bundes wurde gesucht. „Wir haben etwas, was wir nicht wollen“, hieß es – doch wem geben? Das Bundeskanzleramt spielte den Ball ans Wirtschaftsministerium weiter und für die zuständigen Beamten am Wiener Stubenring kam eigentlich nur ein Weg in Frage: Auch die Stollenanlagen mussten in das geplante „Bundesimmobiliengesetz“ des Jahres 2000 integriert werden. Dieses sah den Verkauf beinahe aller bis zu diesem Zeitpunkt im Wirtschaftsministerium verwalteten Immobilien an die Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) vor. Doch für eine geordnete Weitergabe der unterirdischen NS-Bauten fehlten zuverlässige Unterlagen – hektische Aktivitäten waren die Folge; eine eigene Stollen-Arbeitsgruppe wurde gegründet. Zur wichtigen Arbeitsgrundlage wurde eine Liste aus dem Jahre 1959, die 560 Luftschutzobjekte aus dem Zweiten Weltkrieg verzeichnete, darunter allerdings auch oberirdische Bauten wie Deckungs- und Splittergräben oder Ein-Mann-Bunker. In fieberhafter Eile, gestützt auf die Auskünfte der einzelnen Bezirkshauptmannschaften und Gemeinden sowie auf Grundbuchsrecherchen und Nachforschungen vor Ort durch die – damals noch existierenden – regionalen Bundesgebäudeverwaltungen, galt es jetzt, die in Frage kommenden Objekte herauszufiltern; das wesentliche Kriterium: Die Rechtsüberleitung von „Deutschem Eigentum“ 1945 zum Eigentum des Bundes sollte nachvollziehbar und gewährleistet sein. Bei allen diesen „unverbücherten“ Stollenobjekten würde der „Eigentumsübergang“ laut Bundesimmobiliengesetz ausdrücklich unter der „Rechtsvermutung, dass der Bund zum Übertragungszeitpunkt Eigentümer war“, erfolgen – eine kleine Hintertür für möglicherweise anders gelagerte Einzelfälle: Sollte jemand beweisen können, dass ein Stollen sein Eigentum – z. B. durch „Ersitzung“ – wäre, müsste die BIG diesen Stollen herausgeben. Ein Befahren und Erkunden der Stollenanlagen war in dieser kurzen Zeit – die Liste musste bis zum November 2000 stehen – ausgeschlossen, auch konnte aus Zeitgründen der historische Hintergrund nicht näher erforscht werden, in manchen Fällen hatte man nicht einmal eine zutreffende Adresse. Hellhörig wurde man nur bei einem Hinweis: Gefahr im Verzug!

      Doppelriegeltür in einem Linzer Luftschutzkeller.

      Am 4. Dezember 2000 passierte das „Bundesimmobiliengesetz“ mit den Stimmen der Koalitionspartner ÖVP und FPÖ das Parlament. Wirtschaftsminister Martin Bartenstein sprach euphorisch von einem „Stück mehr Markt und Kostenwahrheit“, SPÖ-Wohnbausprecherin Doris Bures kritisierte es als „bestenfalls halbherzige Reform“ und Gabriele Moser von den Grünen befürchtete weitere Privatisierungsschritte.

      Beschlossen hatten die Abgeordneten ein 2,4 Milliarden Euro schweres Paket, das die bereits 1992 gegründete, bisher jedoch nur mit Fruchtgenussrechten ausgestattete Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) zu einem wahren Immobilienriesen, dem größten Immobilieneigentümer Österreichs, wachsen ließ: Etwa 5.000 Häuser und Grundstücke, Büro- und Amtsgebäude, Schulen, Universitäten, Wohnungen und „Spezialimmobilien“ wie Kirchen, Schlösser oder eben Stollen wechselten aus dem Eigentum der Republik in jenes der BIG. Abgewickelt wurde das Geschäft in vier Tranchen, finanziert über die Begebung von Anleihen am internationalen Kapitalmarkt. Das Ziel: eine marktorientierte, erfolgreiche Bewirtschaftung dieser Immobilien, die sowohl den Verkauf nicht mehr benötigter Liegenschaften als auch die Neuerrichtung von Bundesgebäuden vorsieht, vor allem von Schulen, Universitäten und Bürogebäuden – „Raum für die Zukunft“ ist die ambitionierte Devise.

      Um diese Vorgänge weiß auch BIG-Mitarbeiter Karl Lehner bestens Bescheid, als er am 8. Jänner 2001 in sein Büro in der Neulinggasse 29 im 3. Wiener Gemeindebezirk kommt. Es ist Montag, der Weihnachtsurlaub ist vorbei und der erfahrene Techniker und „Hochbauer“ ist gespannt, was da Neues auf ihn zukommt. Die Unterlagen liegen bereits auf seinem Schreibtisch – eine 35 A4-Seiten umfassende Liste mit der harmlosen Ziffer „A.1.2“ –, die Liste der Stollenanlagen, die mit Stichtag 1. Jänner 2001 als Superädifikate ins Eigentum der BIG wechselten: 290 Objekte, fein säuberlich nach Bundesländern aufgelistet, das Danaergeschenk der Kollegen aus dem Wirtschaftsministerium. Karl Lehner traut seinen Augen nicht: Von Stollen war in den Gesprächen vor Weihnachten nie die Rede gewesen, die Überraschung ist groß. Was nun? Karl Lehner, seit 1971 in der Bundesbaudirektion Wien und seit 1996 in der BIG tätig, ist klassischer „Hochbauer“, sein Spezialgebiet die Instandhaltung von Bauwerken. Und er ist ein Einzelkämpfer, der sich plötzlich 290 Stollen gegenübersieht – mysteriösen unterirdischen Objekten, die, er ahnt es noch nicht, sein Berufsleben in den nächsten zehn Jahren bestimmen werden.

      Karl Lehner, Leiter, gleichzeitig aber auch einziger Mitarbeiter der „Abteilung Stollen“ in der BIG, beginnt die Liste zu studieren. Auf den ersten Blick bietet sich ihm eine bunte Palette quer über Österreich: vom Luftschutzstollen in der Mizzi-Langer-Wand in Wien-Rodaun bis zum Stollen unter dem Kloster Riedenburg in Bregenz, von einer Stollenanlage in Neusiedl/​Zaya bis zum Luftschutzraum unter der Klosterruine Arnoldstein. Es ist eine faszinierende Mischung: vom klassischen Luftschutzbau zum alten Bergwerksstollen, von der ehemaligen unterirdischen Waffenschmiede bis zum Bunker. Unter dieser großen Anzahl von Stollenanlagen befinden sich auch einige, die eindeutig nicht im Besitz des Bundes sind, wie z. B. der bei Roggendorf in der Nähe von Melk für das NS-Geheimprojekt „Quarz“ errichtete unterirdische Komplex oder der in privater Hand befindliche Wilhelm-Erb-Stollen in Schwaz.

      Noch verbindet BIG-Underground-Chef Karl Lehner mit den vorliegenden dürren Daten keine konkreten Bilder und Vorstellungen, ja, die tatsächliche Dimension des Problems ist unklar, denn es fehlt an wichtigen Basis-Informationen: Wo befinden sich die Eingänge zu diesen Anlagen? Wer sind die Ansprechpartner, gibt es überhaupt welche? Und vor allem bewegt eine Frage: Wie ist der Erhaltungszustand dieser Anlagen und was gilt es zu tun? Wo ist bereits Feuer am Dach? Auch er weiß, dass nach dem Grubenunglück von Lassing am 17. Juli 1998 die Welt des österreichischen Bergwesens eine andere geworden ist. Eine neue Sensibilität hat Einzug gehalten: genauere Dokumentation, exakte Information sind notwendig geworden, vor allem aber eine zuverlässige Einschätzung des Sicherheitsrisikos – die Oberlieger wollen ruhig schlafen können.

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