Was uns frei macht. Matthias Beck
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Du sollst Frucht bringen
Man stelle sich den Samen eines Apfelbaumes vor. Er wird in den Boden eingesetzt und wächst heran. Wenn alles gut geht, wird er zum Baum und wird größer. Er wächst von selbst. Nach einiger Zeit trägt er Früchte. Sie ernähren den Menschen. Der Baum bringt von selbst die Frucht hervor, aber er muss auch gut gepflegt werden, braucht Wasser, Licht und Nahrung. Wie steht es mit dem Menschen? Soll er auch Frucht bringen? Geht das auch von selbst? Oder muss er da mitwirken?
Das Leben beginnt ganz klein. Ein Spermium befruchtet eine Eizelle. Neues Leben tritt ins Sein. Der Embryo wächst heran. Ab dem dritten Monat wird er Fetus genannt. Der Fetus wird geboren, die Nabelschnur durchtrennt. Die Trennung von Mutter und Kind beginnt. Aus der Einheit in Verschiedenheit von Mutter und Kind wird das Gegenüber zweier Individuen. Sie schauen sich an. Sie haben ein Antlitz,25 ein Gesicht. Sie kommunizieren jetzt als Gegenüber, wie sie dies schon im Mutterleib in anderer Weise getan haben. Das Kind braucht Zuwendung. Kinder, die nur ernährt werden, sterben. Man muss mit ihnen sprechen, sie berühren, anschauen, anlächeln. Zunächst geht diese Kommunikation nonverbal vonstatten, später mit Worten. Der Mensch ist auf Kommunikation und Beziehung angewiesen.
Das Kind wächst heran. Es lernt laufen, sprechen, denken. Es wird angesprochen und antwortet, es wird angeblickt und blickt zurück, es wird geliebt und liebt zurück. So lernt es sprechen, schauen, lächeln, lieben. So könnte es weitergehen. Aber es kommen neue Herausforderungen hinzu: Es soll lesen und schreiben lernen, einen Beruf ergreifen, den richtigen Lebenspartner finden. Das Leben steht nicht still, es geht weiter. Die Zeit ist nicht anzuhalten und nicht zurückzudrehen. Es geht immer nach vorne.
Die Zeit läuft immer weiter: Die letzten Minuten, die vergangen sind, kommen nie wieder, und die nächsten Minuten waren noch nie da. Insofern – so ähnlich sagt es der Philosoph Martin Heidegger – „gibt“ es keine Vergangenheit, weil sie schon vorbei ist. Und es gibt auch keine Zukunft, weil sie noch nicht da ist. Es gibt nur die Gegenwart der Vergangenheit, die Gegenwart der Zukunft und die Gegenwart der Gegenwart. Vergangenheit und Zukunft fallen in der Gegenwart zusammen. Eigentlich gibt es immer nur das Jetzt. Dies ist ein Hinweis auf die Ewigkeit. Denn die Ewigkeit ist „ständige“ Gegenwart, ist „ständiges“ Jetzt!
Bei Leben und Zeit gibt es eine Dynamik in die Zukunft hinein. Und doch kommt die Zukunft auf den Menschen zu (zu-kunft). Er kann sie nicht machen. Er fällt geradezu immer neu in die auf ihn zukommende Zukunft hinein. Er weiß nicht einmal genau, ob sie kommt. Die kommenden Minuten waren noch nie da. Aller Voraussicht nach kommen sie, genau wissen kann es der Mensch nicht. Die Welt könnte untergehen oder jemand stirbt, dann ist zumindest die eigene Zukunft in dieser Welt dahin. Die Zukunft kommt und baut sich unter jedem Schritt des Menschen neu auf. Sie ragt als noch Kommende in die Gegenwart hinein: Wir machen Pläne, erwarten ein Kind, hoffen auf einen guten Ausgang.
Leben ist im Werden. Es ist Vorübergang. Gibt es in dieser Bewegung des Vorübergehenden auch Bleibendes? Leben wächst: körperlich, seelisch, geistig. Wachstum ist ein zentrales Phänomen des Lebens. Das körperliche Wachstum kommt irgendwann an ein Ende. Aber seelisches Wachstum geschieht ein Leben lang, ebenso wie das geistige Wachstum. Der Mensch ist nie fertig. Er verändert sich äußerlich und verwandelt sich innerlich. Halten wir die Frage nach dem Bleibenden noch offen.
Der zitierte Apfelbaum bringt von selbst die Frucht hervor. Der Mensch muss sich zum Fruchtbringen entscheiden. Er kann sein Leben auch absterben und verwelken lassen. Er kann scheitern. Wer Freiheit denkt, muss auch Scheitern denken. Der Mensch kann sein Ziel verfehlen: Das meint der griechische Begriff hamartia. Im Deutschen wird dieser Begriff meist mit Schuld übersetzt, entweder im Sinne des Schuldig-Bleibens oder des Schuldig-Werdens. Jemand bleibt hinter seinen Möglichkeiten zurück, bleibt sich selbst und dem Leben etwas schuldig. Er bringt keine Frucht. Er verdorrt. Er verfehlt sein Ziel.
Wie kommt es zu diesem Fruchtbringen beim Menschen? Es ist ja offensichtlich ein Fruchtbringen, das einerseits von allein geht und gleichzeitig mitgestaltet werden muss. Die Entwicklung und das Werden drängen heran und der Mensch kann mit dieser Lebensbewegung mitschwingen und zur Entfaltung beitragen oder sich dagegen entscheiden. Er sollte versuchen, die innere Entfaltungsdynamik nicht zu blockieren. So geht es um ein Zulassen dessen, was sich von innen entfalten will und um ein Mitwirken daran. Es geht dabei nicht um eine ständige Leistung, die überfordert.
Woher zieht der Apfelbaum seine Nahrung zur Entfaltung? Aus etwas anderem, das er selbst nicht ist: aus der Erde, in der er wurzelt, aus Wasser, Luft, Sonnenenergie. Woher zieht der Mensch seine Nahrung? Auch aus etwas anderem: aus seiner Ernährung, dem Wasser, der Luft, der Sonnenenergie. Aber auch das Seelische braucht Nahrung. Sie bekommt der Mensch aus guten menschlichen Beziehungen: im Kindesalter vor allem von den Eltern, später von Freunden, Lebenspartnern. Beziehungen können aneinander reifen. Das geht nicht ohne Konflikte. Entscheidend für die glückende Reifung ist, dass diese Konflikte immer wieder gelöst und Missverständnisse geklärt werden.
Woher kommt die geistige Nahrung? Offensichtlich aus Geistigem: von Menschen, aus der Schule, aus einem Buch, dem Nachdenken über die Welt, aus Erkenntnis, Selbsterkenntnis, Welterkenntnis, Erkenntnis der letzten Dinge, Dialog mit dem anderen. All diese Dialoge wurzeln letztlich in einem Dialog mit dem letzten geistigen Grund des Seins, dem Göttlichen. Aus ihm wächst alles empor. Er ist die Quelle und der Urgrund von allem.
Derselbe Urgrund des Seins wohnt im Menschen als Seelengrund.26 In diesem letzten Grund darf und soll der Mensch Wurzeln schlagen. Von dort her wächst ihm alles zu: Kraft, Erkenntnis, Einsicht, Verständnis für sein Leben. Auch hier wieder beides: Diese Wurzeln sind schon da, sie bringen Nahrung herbei und doch sollte sich der Mensch diesem Grund immer wieder aktiv zuwenden. Hier kommt seine Freiheit ins Spiel. Darin liegt die eigentliche Entscheidung, die jeder täglich neu treffen kann: sich immer wieder diesem letzten Seinsgrund zuzuwenden, damit aus ihm das Leben sprießen kann und zur Entfaltung kommt. Wenn die menschlichen Wurzeln in gutem Boden verankert sind, wird das Leben auch gute Früchte tragen.
So wie der Mensch täglich essen muss, kann er sich auch immer wieder nach innen seinem Seelengrund zuwenden, still werden und in sich hineinhorchen. Die eigentliche geistig-geistliche Nahrung kommt aus dieser tiefsten Dimension. Es liegt in der Entscheidung des Menschen, sich ihr immer wieder hörend zuzuwenden. Das nennt man zum einen „Reflexion“ (reflectere: sich nach innen beugen). Der Mensch besitzt die Freiheit, über das eigene Leben, das Leben der anderen und das Leben an sich nachzudenken. Dieses Sich-nach-innen-Wenden kann man auch als Gebet oder Meditation bezeichnen.27 Der Mensch hört in das eigene Innere hinein oder formuliert „nach draußen“ Gebete: still werden, um in der Stille die schweigende Stimme aus dem Inneren zu vernehmen. Reflexion und Gebet können sich durchdringen. Aus christlicher Sicht wohnt im Seelengrund das Göttliche, der gute Geist, der Heilige Geist. Dieser „spricht“ in der Weise des Schweigens.28 Er ist „Teil“ des menschlichen Gewissens, das eine Mischung ist aus weltlichen Stimmen von Vater, Mutter, Schule, kulturellen Prägungen und anderen Über-Ich-Strukturen29 und der göttlichen Wahrheitsstimme. Im Laufe des Lebens geht es immer mehr darum, die weltlichen Stimmen von der göttlichen unterscheiden zu lernen. Die Tradition nennt das die „Unterscheidung der Geister“ (siehe dazu das Kapitel über die Unterscheidung der Geister). In Anlehnung an das Wachstum der Pflanzen beschreibt das Neue Testament diese je neue Zuwendung als ein Bleiben: „Bleibt in mir, dann bleibe ich in euch. Wie die Rebe aus sich heraus keine Frucht bringen kann, sondern nur, wenn sie am Weinstock bleibt, so könnt auch ihr keine Frucht bringen, wenn ihr nicht in mir bleibt. Ich bin der Weinstock und ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht; denn getrennt von mir könnt