Was uns frei macht. Matthias Beck
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Was uns frei macht - Matthias Beck страница 6
Es geht also um die Größe des Menschen, die dieser nur von Gott her einlösen kann. Das Nichteinlösen führt zur Selbstentfremdung, zum Nicht-Selbstsein. Diese persönliche Berufung des Einzelnen geht weit über die Erfüllung allgemeiner Normen hinaus.36 Dazu noch einmal Rahner: Vom Grundphänomen einer ganz persönlichen Berufung müsse deutlicher werden, „daß die Sünde über ihre Eigenschaft als Verstoß gegen das Gesetz Gottes hinaus auch und ebenso ein Verstoß ist gegen einen ganz individuellen Imperativ des individuellen Willens Gottes, der Einmaligkeit begründet. Wäre von da Sünde nicht deutlicher erkennbar als Verfehlen der persönlich-individuellen Liebe Gottes?“37
Warum ist Sünde Sünde, könnte man fragen? Oder: Was ist so schlimm an der Sünde? Sie ist letztlich so schlimm, weil der Mensch sich selbst verfehlt. Er lebt an seiner Berufung vorbei und verfehlt seine eigene Mitte und Identität. Er wird sich selbst fremd und damit auch den anderen. Er verliert seine innere Einheit, seine Ganzheit, sein Heilsein. Er verliert schließlich seine Liebesfähigkeit. Es geht im Christentum nicht primär darum, dass Sünde ein Verstoß gegen ein Gesetz oder gegen das System der katholischen Kirche ist, sondern dass es im Letzten um die Selbstverfehlung geht. Das ist ja das „Schlimme“ und Tragische an der Sünde, dass der Mensch sich selbst zerstört. So bringt die Sünde den (inneren) Tod. Aus der Sünde als dem Absondern folgt, dass der Mensch sich selbst, dem anderen und letztlich auch Gott etwas schuldig bleibt. Schließlich fällt er womöglich auch in Schuld im Sinne der Übertretung einer Norm.38
Leider ist in der Geschichte das Phänomen der Schuld oft „nur“ als Normübertretung oder als die Verletzung eines Systems gesehen worden und nicht als die tiefer liegende und folgenreichere Beziehungsstörung zu Gott, die den Menschen sich selbst entfremdet und innerlich tötet. Das Zerstörende der Sünde wird ihres Ernstes beraubt und verharmlost, wenn die Sünde im Sinne der Schuld nur in der Übertretung von Normen gesehen wird. Selbst wenn der Mensch äußerlich alle Normen erfüllt, ist er noch kein guter Mensch. Denn jeder soll ein „positiv Einmaliger“ (Rahner) werden, sich selbst finden und die Liebe umsetzen. Mancher findet sich sogar erst durch die Verfehlung hindurch und manch liebloser Gesetzestreuer, der vermeintlich alles richtig macht, ist ein herzloser Mitmensch. Die erkannte und bereute Verfehlung kann demütiger, bescheidener, verständnisvoller und liebevoller machen. Da es gerade im Christentum um die Vervollkommnung in der Liebe geht und diese Liebe nicht nur die Nächstenliebe meint, sondern auch die Selbstliebe, Selbstfindung und Selbstannahme, ist die Anbindung an den letzten Seinsgrund, an den Weinstock, von zentraler Bedeutung. Denn die richtige Selbstliebe (die kein Narzissmus ist) hat ihre Basis in der Gottesliebe. Die Selbstliebe ist geradezu Voraussetzung und „Maßstab“ für die Nächstenliebe: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ist die Gottesbeziehung (Gottesliebe) gestört, sind es auch die Selbstbeziehung (Selbstliebe) und die Beziehung zum Nächsten (Nächstenliebe).
Vielleicht noch ein anderer Zusammenhang: Auf dem Weg zur Vollkommenheit in der Liebe ist es zunächst von untergeordneter Bedeutung, welchen Beruf der Mensch ergreift. Allerdings findet der Mensch besser seine innere Mitte und seinen Frieden, wenn er auch seine „richtige“ Berufung findet und ihr folgt. Insofern hängen das Finden der Berufung und die Liebesfähigkeit zusammen. Wer ständig an sich vorbei lebt und innerlich zerrissen ist, wird auch nicht lieben können: weder sich selbst noch den anderen, geschweige denn den Feind. Nur wer mit sich selbst im Einklang ist, kann sein Glück finden. Immanuel Kant meint sogar, dass es eine Verpflichtung zum Glück gibt, da der Unglückliche meistens auch seine Umgebung unglücklich macht.
– Die Reinigung –
Der Satz „Ihr sollt mehr Frucht bringen“ kann auch etwas ganz anderes besagen. Denn das Gleichnis vom Fruchtbringen beginnt so: „Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater ist der Winzer. Jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, schneidet er ab, und jede Rebe, die Frucht bringt, reinigt (Hervorhebung d. Verf.) er, damit sie mehr Frucht bringt“ (Joh 15,1-2). Dieses Gleichnis kann in zwei Richtungen interpretiert werden. Zum einen, dass diejenigen Menschen, die keine Frucht in ihrem Leben bringen, vom Weinstock abgeschnitten werden und – wie es später heißt – verdorren. „Wer nicht in mir bleibt, wird wie die Rebe weggeworfen, und er verdorrt. Man sammelt die Reben, wirft sie ins Feuer, und sie verbrennen“ (Joh 15, 6).
Die Zielrichtung des Evangeliums ist aber so, dass Gott genau das nicht will. Er will nicht, dass überhaupt ein Mensch verloren geht. Von Jesus heißt es, dass er zu unserem Heil und zu unserer Heilung auf diese Welt gekommen ist und nicht für unser Verderben. Er ist der Heiland. Er soll die Welt nicht richten, sondern retten. „Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird“ (Joh 3,17). An anderer Stelle heißt es: „Denn der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist“ (Lk 19,10). Er sagt zu seinem Vater, dass niemand verloren gegangen sei (außer Judas), den er ihm anvertraut habe. „Und ich habe sie behütet und keiner von ihnen ging verloren, außer dem Sohn des Verderbens, damit sich die Schrift erfüllt“ (Joh 17,12).
Hans Urs von Balthasar meint, die Hölle sei leer, es sei denn, jemand wolle hinein. Und das ist wohl der Ernst des Lebens, der im vorliegenden Gleichnis ausgesprochen werden soll. Einen Automatismus der Rettung, dass am Ende des Lebens schon alles gutgehen wird, gibt es nicht. Dann würde Gott die Freiheit des Menschen nicht wirklich ernst nehmen und am Ende wäre alles gleichgültig. Gott nimmt aber den Menschen sehr ernst und will seine freie Entscheidung. Das beginnt schon in der Paradiesgeschichte und zieht sich durch das ganze Neue Testament. Der Mensch ist aufgefordert, an seinem Heil, seiner Rettung, seinem Glück und seinem gelingenden Leben mitzuwirken: „Müht euch mit Furcht und Zittern um euer Heil!“ (Phil 2,12) Der Mensch kann es nicht aus eigener Kraft, er muss es auch nicht. Diese Aussage soll ihn nicht entmutigen, sondern entlasten. Aber der Weg gelingt nach diesem Gleichnis nur, wenn er angebunden bleibt an den Quell des Lebens, an den Weinstock. Er soll sich daher nicht von der Kraftquelle des Weinstockes abkoppeln, denn getrennt vom Weinstock kann er nichts tun. Es ist wohl eher als Mahnung zu verstehen denn als ein endgültiges Urteil.
Der „Aufwand“, an diesem Weinstock dranzubleiben, ist relativ gering, verglichen mit den Anstrengungen der Menschen, ohne diese Anbindung aus sich heraus Frucht bringen zu wollen. Sie versuchen dies oft mit allen Möglichkeiten der Lebensverbesserung, mit dem, was die Medizin Enhancement nennt: mehr Leistungsfähigkeit durch Genmanipulation, Doping, Medikamente, Wellness und vieles mehr. Hier geht es um Selbstoptimierung. Das aber meint das Evangelium genau nicht.
Der Christ weiß, dass er sich nur sehr begrenzt selbst optimieren kann. Er wird optimiert durch das göttliche Wirken. Daran kann er teilnehmen. Dazu braucht er zunächst nur eines: eine gute Verbindung zum Weinstock, dann wird ihm alles andere dazugegeben. „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit; dann wird euch alles andere hinzugegeben“ (Mt 6,33). Er soll den Kontakt nicht abreißen lassen, damit er Frucht bringen kann. So kann für den Christen eine Art Gelassenheit entstehen, dass er das Fruchtbringen nicht selber machen muss, sondern „nur“ zulassen soll, dass der Durchfluss der Kraft, die vom anderen kommt, nicht behindert wird. Dann kann er mit dieser Kraft mitwirken. In der Heiligen Messe heißt es: „Frucht des Weinstocks und der menschlichen Arbeit“. Dies steht im krassen Gegensatz zur ständigen Überforderung im innerweltlichen Wettlauf, der ohne die Anbindung an den Weinstock aus sich heraus nach Verbesserung und Fruchtbringen sucht. Nicht selten endet dies in der Situation des Ausgebrannt-Seins (Burnout). Die vom Weinstock abgeschnittenen Reben verbrennen (Mt 15, 6). Davor will das Gleichnis warnen.
Zusammengenommen mit dem zweiten Teil des Gleichnisses, dass diejenige Rebe,