Was uns frei macht. Matthias Beck
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So auch beim Weinstock. Die Rebe soll wachsen und im Laufe des Wachstums wird sie befreit von Verunreinigungen. Der Winzer selbst nimmt diese Reinigung vor. Auf das Leben übertragen könnte man es so interpretieren: Da ist jemand gut unterwegs im Leben, bringt durchaus Frucht, wird aber wegen seiner Erfolge hochmütig und übermütig. Hier kann es sein, dass ihn womöglich Einbrüche im Leben, Leidensprozesse oder Krisen demütiger machen. Krisen des Lebens – aber auch positive Erfahrungen – können durchaus die Reben reinigen, damit sie mehr Frucht bringen. Die Kirchenväter haben von der Pädagogik Gottes gesprochen. Nun greift Gott ja meistens nicht aktiv in das Leben ein. Er wirkt – wie die Theologie sagt – durch Zweitursachen, also durch Ereignisse des Lebens und durch Menschen hindurch. So könnte man auch von der Pädagogik des Lebens sprechen. Wenn man hier das Wort Jesu ernst nimmt: „Ich bin … das Leben“ (Joh 14,6) und so nahezu von einer Gleichsetzung der Person Jesu mit dem Leben ausgeht, könnte man sagen, dass die Pädagogik Gottes mit der Pädagogik des Lebens zusammenfällt oder zumindest Ähnlichkeiten aufweist. Das Leben hat seine eigene Pädagogik und Logik. Es „enthält“ den Logos Gottes. Der Mensch, der sich zu weit vom wahren Leben entfernt, kommt womöglich zu Fall. Wie der Volksmund sagt: Hochmut kommt vor dem Fall.
Die Reinigung der Reben am Weinstock könnte auch noch anders gedeutet werden. Es kann bedeuten, dass der Mensch sich im Lauf seines Lebens – spätestens in der Lebensmitte – auch seinen Schattenseiten stellen muss sowie dem, was bisher verdrängt wurde.39 Das Dunkle des Unbewussten sowie das Tote im Inneren kommen langsam ans Licht. Augustinus hat es in etwa so formuliert: Die Wahrheit bricht sich Bahn, dem, der sich ihr öffnet, eröffnet sie sich, dem, der sich ihr verschließt, verschließt sie sich. Der griechische Begriff für Wahrheit heißt a-letheia (wörtlich: das Unverborgene). Das Verborgene, das oft unangenehm ist, tritt langsam ans Licht. Es kommt an die Oberfläche, kann angeschaut und erlöst werden. Auch in ihm stecken kreative Kräfte. Der Mensch kann sich diesem oft schmerzhaften und tränenreichen Prozess der Bewusstwerdung stellen und ihm zustimmen. Dies ist zum einen notwendig, damit das Unbewusste nicht zerstörerisch im Menschen wirkt und womöglich zu Depressionen führt. Zum anderen schlummert auch im Verdrängten und in den Schattenseiten noch kreatives Potenzial. Wenn das ans Licht kommt, kann mehr Frucht daraus werden. Der Weg der „Wahrheitung“ und der Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten, die nicht gerne angeschaut werden und vielleicht Erschrecken auslösen, ist oft ein schmerzlicher und lebenslanger Prozess. Er muss oft mehr erlitten werden, als dass er gewollt ist. Er wird dem Menschen quasi von innen her „aufgedrängt“. Aber es gibt eine Zusage, wenn man sich ihm stellt: „Die Wahrheit wird euch freimachen“ (Joh 8,32) und: „Ihr werdet mehr Frucht bringen“. (Joh 15,2)
Du sollst aus fünf Talenten zehn machen
Der Begriff „Talent“ kann als Geldstück verstanden werden oder als Begabung. Hier geht es zunächst um die Begabung. Sie hat etwas zu tun mit Gabe: Jedem Menschen ist etwas mitgegeben. Manches ist in den Genen verankert, manches in den epigenetischen Verschaltungen, die auch mit dem Lebensstil des Menschen zu tun haben.40 Vieles wird gefördert durch eine gute Erziehung und Bildung, einiges leider auch blockiert und zerstört durch schlechte Familienverhältnisse. Die Begabung, die zum Teil erblich ist, muss gefördert werden, sonst versiegt sie und kommt nicht zur Entfaltung. Es ist immer beides: Anlage und Förderung, Begabung und Arbeit. Mozart hatte ein großes musikalisches Talent. Wenn er nicht geübt und mit seinem Vater daran gearbeitet hätte, hätte sich das Talent nicht entfalten können. Dies ist ein Auftrag an den Begabten, ebenso an die Eltern und an den Staat, Bedingungen zur Verfügung zu stellen, die der Entfaltung des Angelegten dienen.
Allerdings darf sich die Verwirklichung der Anlagen nicht nur auf die Verbesserung der intellektuellen Fähigkeiten oder des Sachverstandes beziehen, sondern muss auch die Ausbildung des ethischen Bewusstseins umfassen. Der Mensch sollte auf allen Ebenen gebildet werden: auf der Sachebene, auf der ethischen, wie man gut und richtig handelt, und auf der spirituellen, wie man seine Innenwelt am besten verstehen kann. Anders ausgedrückt: Er sollte auf der Vernunftebene, der Verstandesebene und auf der Herzensebene durchgebildet werden. Oder wie Dostojewski sinngemäß sagte: Lieben heißt, aus dem anderen das herauslieben, was Gott als Bild in ihn hineingelegt hat. Das ist Bildung im umfassenden Sinn. Wenn jemand nur auf der Sachebene gut ausgebildet ist, kann er sein Wissen nicht allein für gute Zwecke nutzen, sondern ebenso Banken überfallen, Kriege planen oder Cyberattacken durchführen. Also muss die Frage lauten, wozu man die Talente nutzt. Das Christentum ist hier ganz klar: Die Talentvermehrung sollte immer im Dienst am Menschen stehen, am anderen und an sich selbst. Daher geht es bei der Talentvermehrung immer auch um die Einübung ethischer Standards: um die Aneignung der Tugenden von Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß sowie der christlichen Tugenden von Glaube, Hoffnung und Liebe. Ebenso sind ethische Vorstellungen, die durch Immanuel Kant mit dem Begriff Menschenwürde belegt wurden, von großer Bedeutung. Dieser Begriff besagt, dass jeder Mensch um seiner selbst willen geachtet werden soll. Das ist die philosophische Zusammenfassung dessen, was in der griechischen Philosophie mit der Tugend der Gerechtigkeit angedacht war, dass man jedem Menschen gerecht werden soll, im Judentum mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen und im Christentum mit der Aussage des Paulus, dass vor Gott alle Menschen gleich sind. Letztlich ist der Begriff der Menschenwürde die philosophische Durchreflexion der Vorstellung von der Nächstenliebe und in weiterer Konsequenz der Feindesliebe im Christentum. Denn auch der Feind soll um seiner selbst willen geachtet werden. Er darf zum Beispiel nicht gefoltert werden, weil dies der Menschenwürde widerspricht. Aus dem Begriff der Menschenwürde sind die Menschenrechte hervorgegangen.
Das Neue Testament fasst die Talentvermehrung im Kontext der Ethik sehr klar zusammen: Auf das Gleichnis von der Talentvermehrung folgt das Gleichnis vom Weltgericht. Es heißt dort: „Dann wird der König denen auf der rechten Seite sagen: Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist. Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank, und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen“ (Mt 25, 31-36).
Auf die Rückfragen der Menschen, wann sie den Menschensohn arm, krank und obdachlos gesehen haben, antwortet er: „Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25, 40). Hier ist die Zielrichtung des Handelns und der Verwirklichung der Talente klar aufgezeigt: Der Mensch soll seine Talente auch im Dienst am Armen, Hungrigen, Durstigen, Fremden, Obdachlosen, Kranken und Gefangenen vermehren. Und umgekehrt: „Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan. Und diese werden weggehen und die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber das ewige Leben“ (Mt 25, 45-46).
Nimmt man das Talent als Geldstück und Währung, tritt Ähnliches zutage. Das Menschenbild des Christentums zeigt den Menschen als je unterschiedlich: Jeder hat unterschiedliche Talente, die er nutzen soll. Der eine hat mehr künstlerische Talente, der andere handwerkliche, der Dritte unternehmerische, der Vierte wissenschaftliche. Jeder soll im Orchester der Menschen sein eigenes, für ihn stimmiges Instrument spielen. Zweifelsohne darf der Mensch Geld verdienen und unternehmerisch tätig sein. Allerdings