Die Krieger des alten Japan. Roland Habersetzer
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»Bande von Feiglingen!« schrie er, und alle blickten zu ihm hinauf, wie er auf dem Dach stand. »Einen schlafenden Samurai anzugreifen! – Wenn ich es wollte, könnte ich im Kampfe sterben. Und zuvor würden viele von euch den Tod gefunden haben, denn ich würde kämpfen, bis meine Klinge schartig ist. Aber ich will nicht, daß am Ende einer von euch sich eines Tages damit brüsten kann, Sato Tadanobu besiegt zu haben.« Nachdem er diese Worte gerufen hatte, wandte er die Spitze seines Schwertes gegen sich und gab sich den Tod.41
Yoshitsune und Benkei, die sich als Pilgermönche verkleidet hatten, setzten ihren Weg nach Norden fort. Zweifelsohne fanden sie auf ihrer gefährlichen Wanderschaft immer wieder Helfer, vor allem unter den Bonzen und den Kriegermönchen, die sich in der Gegend gut auskannten. In der Geschichte dieser langen Treibjagd auf Yoshitsune tritt mehr und mehr die Persönlichkeit Benkeis in den Vordergrund. Während Yoshitsune zunehmend pessimistischer wurde, erwies sich sein riesenhafter Begleiter als einfallsreich und sprühend vor Energie. Wiederholt war es nur seiner List und seinem Geschick zu verdanken, daß die beiden dem sicheren Tod entkamen. Das bekannteste Beispiel hierfür ist das Passieren von Ataka-no-Seki. Diese Episode ist auch Gegenstand eines nô-Theaterstücks.
Die beiden Männer näherten sich dem Grenzposten von Ataka. Es war offensichtlich, daß dort bereits bekannt war, daß sie als Bettelmönche verkleidet reisten, denn auf einem Brett waren die bereits verwesenden Köpfe mehrerer Mönche, die während der letzten Tage erschlagen worden waren, zur Schau gestellt. Der Anblick war entsetzlich, und der Gedanke an den Tod all der Unschuldigen ließ ihre Herzen schneller schlagen. Doch für die Umkehr war es zu spät, die Wächter hatten sie bereits erblickt und erwarteten sie. Benkei, der in das wollene braune Gewand der Bettelmönche gekleidet war, wechselte einen kurzen Blick mit seinem Meister, der ein Stück hinter ihm ging, verkleidet als Träger seines eigenen Gepäcks, auf dem Kopf einen großen Strohhut, den er tief ins Gesicht gezogen hatte.
»Halt! Wer seid Ihr?«
Benkei hatte seine Antwort bereits parat, und gelassen erwiderte er: »Wir sind zwei Mönche auf der Reise, die ausgesandt wurden, um Geld zu sammeln für den Wiederaufbau des Todai-Tempels.«
»Zeigt mir Euren Auftrag.«
Auch dies hatte Benkei vorausgesehen. Er durchwühlte ein Gepäckstück und zog eine Schriftrolle hervor, welche er ein Stück aufrollte. Er hielt dabei die Arme ausgestreckt vor sich, hatte sich aber so hingestellt, daß der Wächter nicht erkennen konnte, daß das Papier unbeschrieben war. Mit unglaublicher Dreistigkeit begann er mit lauter Stimme im Singsang eine lange Litanei vorzutragen, die von der unglücklichen Geschichte des Todai-Tempels handelte und in die er immer wieder unverständliche Gebetsformeln einflocht. Er tat dies auf solch vollendete Weise, daß der andere geradezu hypnotisiert war. Doch irgendwann war es dem Wächter zuviel und er unterbrach Benkei: »Und der andere?« fragte er, indem er Yoshitsune, der sich zum Vortrag Benkeis mit dem Gesicht nach unten auf den Boden geworfen hatte, mit dem Fuß anstieß. Benkei reagierte unverzüglich und eilte zu ihm, während er rief: »Steh auf! Was soll das schon wieder? Antworte gefälligst dem Herrn Offizier! Ich habe langsam genug von dir und deinen Späßchen!« Mit diesen Worten begann Benkei mit aller Kraft auf Yoshitsune einzuprügeln. Der Offizier lachte, als er das Schauspiel sah. Dieser arme Teufel, der sich verprügelt wie ein Hund im Staub wälzte, konnte unmöglich Yoshitsune, der Bruder des großen Yoritomo sein. Kein Diener hätte je gewagt, seinen Meister auf solche Art zu erniedrigen. Er gab ihnen ein Zeichen, daß sie ihres Weges ziehen konnten.
Ein Stück weiter, hinter der ersten Wegbiegung, fiel Benkei auf die Knie, brach in Tränen aus und flehte seinen Meister um Vergebung an. Yoshitsune hieß ihn, sich zu erheben und dankte ihm von Herzen für seine ausgezeichnete Geistesgegenwart.
Schließlich, Ende 1187, erreichten sie die Provinz Mutsu. Hier, weit entfernt von Kyôto, lag das Lehen des Fujiwara Hidehira, eine rauhe Gegend. Sein Herrschaftsgebiet, dessen Hauptstadt Hiraizumi war, stellte die letzte Bastion gegen die Vorherrschaft von Kamakura dar, und er war nicht gewillt, Yoritomo den Treueid zu leisten. Er konnte sich auf hervorragende Krieger verlassen, die in seinen Diensten standen. Yoshitsune und Benkei wurden mit offenen Armen empfangen. Sie fühlten sich endlich in Sicherheit bei diesem großen Lehnsherren des Nordens, der ihnen eine Unterkunft nahe des Flusses Koromo bauen ließ.
Der Beginn der Legende
Hidehira, der Herr von Hiraizumi, hatte zu jener Zeit das für die damalige Epoche seltene Alter von 91 Jahren erreicht. Schon bald, nachdem er Yoshitsune und Benkei bei sich aufgenommen hatte, starb er. Vor seinem Tode hatte er von seinem Sohn Yasuhira verlangt, daß er das Wort, das er den beiden gegeben hatte, respektieren solle. Als Yoritomo vom Tode Hidehiras erfuhr, entsandte er einen Boten nach Mutsu. Dieser überbrachte die Botschaft, daß Yoritomo Yasuhiras Lehen verschonen würde, wenn er ihm Yoshitsune auslieferte. Yasuhira erblickte hierin seine große Chance. Er hielt die Idee, den für vogelfrei Erklärten weiter zu unterstützen, für höchst unvernünftig und wollte lieber auf die Vorteile, die ein Bündnis mit Kamakura bringen würde, spekulieren. Er entschied sich also, die Seiten zu wechseln und die Verpflichtung seines Vaters zu verraten. Er würde Yoritomo den Kopf Yoshitsunes liefern.
Im April 1189 ereignete sich das, was übertriebenerweise als Schlacht am Koromo-gawa bezeichnet wird. Tatsächlich fand sich Yoshitsune, in dessen Begleitung sich außer Benkei noch neun weitere Krieger befanden, von einer Streitmacht von nicht weniger als 20 000 Kämpfern umzingelt. Die Tatsache, daß er seinen Feinden offenbar so viel Furcht einflößte, brachte ihn fast zum Lachen. Aber er besann sich und begriff, daß die Zeit gekommen war, sich auf den Tod vorzubereiten. Ein letztes Mal versammelte er seine tapferen Männer um sich, bevor sie sich in den Kampf stürzten. Die Gewißheit ihres unmittelbar bevorstehenden Todes verzehnfachte ihre Kräfte, und sie beflügelte der Wille, so viele Verräter wie nur möglich mit in den Tod zu nehmen. Keiner ihrer Schläge verfehlte sein Ziel, und bald schon häuften sich die Leichen ihrer Gegner um sie herum. Die Leute von Fujiwara Yasuhira erkannten, daß sie im Nahkampf diese Gegner nicht besiegen würden und beschlossen, sie aus sicherer Entfernung mit ihren Pfeilen zu töten. Yoshitsune und Benkei fanden sich plötzlich allein auf dem Schlachtfeld wieder. Yoshitsune ergriff die Gelegenheit, seinen letzten Getreuen zu bitten, dafür zu sorgen, daß er sich in ihr kleines Haus zurückziehen könne, um dort in aller Würde seinen rituellen seppuku begehen zu können. Diese Anweisung bedeutete zugleich das Lebewohl des Meisters gegenüber seinem treuen Diener. Die beiden Helden wollten sich die rührselige Banalität irgendwelcher letzter Worte ersparen. Sie blickten einander ein letztes Mal mit größter Intensität in die Augen, und sie begriffen, daß sie am Ende ihres Weges angelangt waren. Unwiderruflich.
Benkei