Blinde Krokodile. Tino Hemmann

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Blinde Krokodile - Tino Hemmann

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dreizehnjährige Valentin nackt unter der kalten, heimischen Dusche einem Reinigungsritual hingeben, währenddessen ihm die Mutter mit einer kratzenden, mit Persil getränkten Pferdebürste Haut und Pickel vom Leib zu schaben versuchte und dabei inbrünstig betend fluchte – in diesem Fall ins Hochdeutsche übersetzt, da sonst absolut unverständlich: »Ich lass dir das ganze Ding beschneiden! Gotteslästerer! Schau nur, wie groß der schon wieder gewachsen ist! Der liebe Herrgott wird dich strafen für deine unzüchtige Sauerei! Host mi?«

      Der verzweifelte Junge hielt schützend die Hände vor dem Schambereich und heulte wütend: »Den Papa hast du auch nie mit Persil geschrubbt, wenn er sich heimlich Pornos aus der Videothek geholt hat!«

      »Nu mei! Hau ma bloß ob mit deim Schmarrn! Hat er nischt!«

      »Hat er ja doch! – Und dem Fräulein vom Sparmarkt wollte er auf unsrem Küchentisch ein Kind machen!«

      »Nu mei! Hau ma bloß ob mit deim Schmarrn! Hat er nischt!«

      »Hat er ja doch! In den Mund hat Papa ihr geschnackselt! Nicht mal gemerkt hat er, dass ich mir die Milch aus dem Gefrierschrank geholt habe! Und immerzu hat Papa Zeitschriften mit unerzogenen unangezogenen Frauen in seiner Aktentasche!«

      »Nu mei! Hau ma bloß ob mit deim Schmarrn! Hat er nischt!«

      »Hat er ja doch! Ich hab’s gesehen, wenn ich mir Kleingeld borgen musste!«

      Alles Jammern half nicht. Valentin war in dieser Familie der einzige Verbrecher vor Gott! Die ohnehin stets geröteten, nun jedoch leuchtend roten Hoden erinnerten ihn noch Tage später schmerzlich an die durchstandene Pferdebürsten-Tortur.

      Dem alten Herrn Jugendpfarrer musste die Mutter selbstverständlich über die ungeistlichen Selbstbefriedigungen Valentins Bericht erstatten, ebenso über ihre göttliche Gegenaktion, mit dem egoistischen Ziel, sich eines Tages einen Platz in der ersten Reihe im Himmel zu ergattern. Nachdem der Herr Jugendpfarrer die Reinigungstaten der Mutter unter der heimischen Dusche für göttlich gut gedünkt hatte, ließ er sich vom verschämten Valentin all die Einzelheiten erklären, die der Junge mit dem Pornoversandkatalog veranstaltet hatte. Valentin wurde den Eindruck nicht los, dass er außerhalb des Beichtstuhles keinesfalls alles preisgeben musste und verschwieg somit fünfundneunzig Prozent seiner ungöttlichen Handlungen. Jedoch reichten dem Herrn Jugendpfarrer die harmlosen fünf Prozent für den belehrenden und niederschmetternden Ausspruch: »Trieb, mein Junge, ist Sünde.« Und er fuhr Valentin sehr, sehr sanft über den Schopf. »Doch wozu bedarf es unserer Kirche, gäbe es nicht die kleinen lämmlichen Sünder?« Der Jugendpfarrer wurde wieder ernst. »Doch übertreiben darfst du es nicht. Sonst wird ER dir abfallen. Hörst du? Du weißt ja, unsere katholische Kirche ist keine Religion, sie ist eine Weltmacht. Und mit einer solchen sollte man sich nicht anlegen. Schon gar nicht unter der Dusche oder der vermaledeiten Bettdecke. Die Strafe Gottes ist wahrhaftig weniger barmherzig als sein gesamter Ruf.«

      Valentin kratzte sich auf dem Weg von der Pfarrei nach Hause nachdenklich den Kopf, die Worte des Pfarrers sortierend, und erklärte der Mutter noch am gleichen Abend: »Der Herr Jugendpfarrer hat gesagt, ich darf das tun. Er würde sonst arbeitslos werden.«

      »Nu mei!«, schimpfte die Mutter uneinsichtig. »Hau ma bloß ob mit deim Schmarrn! Hat er nischt!«

      »Hat er ja doch!«

      Das ganze Hormon-Hoch-und-Runter während der pubertären Stress-Epoche in Valentins Leben sorgte schließlich dafür, dass er fast zwei Jahre lang unter starken Schwindelgefühlen litt. Das soll nicht heißen, dass er unverhältnismäßig häufig lügen musste, nein, er fiel aus heiterem Himmel um, und meistens direkt auf die Fresse.

      Eine Diagnose als solches gab es nicht, jeder Arzt vertrat eine andere Version des Krankheitsbildes, so dass Valentin nach einer gewissen Zeit niemandem gegenüber mehr erwähnte, dass er aufgrund eines Schwindelanfalls gestürzt sei. Die Erziehungsberechtigten schoben die Stürze ohnehin auf sein angeborenes Ungeschick. Valentin hingegen glaubte eher einem sehr jungen Kinderarzt, der zu Beginn des Auftretens der Krankheit auf einem Schulsportattestzettel notiert hatte: »Valentin Karl leidet unter einer somatosensorischen Amplifikation.« Die Klassenlehrerin hatte Valentin nach dem Lesen des Zettels gefragt, ob diese Krankheit wohl ansteckend sei. Und Valentin hatte ihr geantwortet: »Oh ja, extrem ansteckend, hat der Doktor gemeint!«, worauf er dem Schulunterricht mehrere Tage lang hatte fernbleiben dürfen.

      Trotzdem befürchtete der Junge angesichts der entsetzlichen Worte »somatosensorische Amplifikation«, dass er wahrscheinlich nicht mehr lang zu leben hatte und bereits in sehr jungen Jahren das Zeitliche segnen würde, zumal ihm bekanntlich der liebe Gott nicht wohl gesonnen war, wie der Herr Jugendpfarrer meinte. Aus der Bibliothek besorgte sich Valentin vorsorglich einige wissenschaftliche Werke und wusste daher bald, dass seine Schwindelanfälle mit großer Wahrscheinlichkeit körpereigene Reaktionen im Chaos der pubertätsbiochemischen, psychischen und familiären Mächte waren. Er konnte daran auch nicht sterben, wenn er nicht gerade ohnmächtig umfallen und von einem Auto überrollt werden würde.

      Mit fünfzehneinhalb Jahren hatte Valentin fast vergessen, dass er noch kurze Zeit zuvor unter diesen Schwindelgefühlen gelitten hatte, denn von einem Tag auf den anderen ließen sie nach, wurden seltener und traten schließlich gar nicht mehr auf. Offiziell wenigstens. Inoffiziell wusste Valentin das Erscheinungsbild der Krankheit noch zu nutzen. Hatte er keine Lust auf einen Zweitausend-Meter-Lauf im Sportunterricht, dann fiel er eben einfach um und täuschte die somatosensorische Amplifikation unglaublich perfekt vor.

      Valentin nahm wieder ein klein wenig zu. Er wurde keineswegs fett, höchstens kräftig – stellte er für sich selbst fest, wenn er seinen Körper halb nackt oder ganz nackt vor dem gewaltigen Schwebetürenschrankspiegel im elterlichen Schlafzimmer musterte. Zudem wurde halbwegs ein Mann aus dem Jungen, denn überall wucherten ihm Haare. Wirklich überall. Gleichsam änderte Valentin einige seiner Interessen. Fußball schaute er sich nunmehr im Fernsehen an, der Kirche kehrte er den Rücken – er betrachtete sich als Oppositioneller der Weltmacht – und vor dem Onanieren verriegelte er sorgfältig die Zimmertür von innen. Alle anderen Dinge änderten sich jedoch nicht.

      So ging Valentins Kindheit viel zu rasch zu Ende. Überraschend rasch, denn er wäre wahnsinnig gern Kind geblieben. Andererseits blieb er tatsächlich allzeit ein Kind, denn sein kindliches Gemüt, das verlor Valentin nie.

      Nach der Schulzeit erlernte Valentin einen Handwerksberuf, denn das hatten ihm die Erziehungsberechtigten geraten. Valentin war keineswegs dumm und seine schulischen Leistungen hätten ihm auch einen höheren Bildungsweg beschieden, doch war ihm ein solcher nicht vergönnt.

      »Du musst endlich eigenes Geld verdienen!«, hieß es. »Wie lange willst du uns denn noch zur Last fallen?«

      »Ich war nicht dabei, als ihr mich geschnackselt habt!«, brüllte Valentin aufgebracht. »Hätt sich Mama nicht ausgestreckt, hätt Papa ihn nicht reingesteckt!« Er schaute auf. »Jedenfalls, wenn ich mit der Lehre fertig bin, verlass ich euch. Aber bittet mich nicht, bittet mich niemals, zurückzukommen!«

      So fand der korpulente junge Mann nach der Lehre einen Job in einem Möbelhaus, für das er unschöne Billigmöbel in wildfremden Wohnungen für ebenso wildfremde Menschen aufbauen musste. Obwohl Valentin stets im Schussfeld der allerwertesten Kundschaft stand, die nach dem Aufbau erkennen musste, was für einen Schund sie billig erstanden hatte, verbrachte er glatte zehn Jahre als Billiglöhner in diesem Unternehmen.

      Während dieser Zeit suchte Valentin hin und wieder nach einem passenden Mädchen, doch irgendwie wollte es ihm nicht gelingen, ein solches zu finden – oder die Brüste waren ihm einfach zu klein. Er selbst kam kaum aus Kleinfingerroda heraus, einer minimalen, höchst katholischen Kleinstadt in der Nähe der bayerischen Landeshauptstadt.

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