Blinde Krokodile. Tino Hemmann

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Blinde Krokodile - Tino Hemmann

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Massagesalon in der Randzone der bayerischen Landeshauptstadt sollte sich Valentin Karls Leben schlagartig verändern.

      Valentin betrat seine Wohnung. Über der Schulter trug er eine hässliche graue Reisetasche, die lediglich dem Transport seines Frotteehandtuchs und seiner Badelatschen für den Massagetermin gedient hatte. Im Zimmer sah es wie immer sehr unordentlich aus, überall lagen Sachen und Bücher herum. Valentin stellte die Tasche ab und stöhnte dabei. Die Massage steckte ihm tief in den Knochen und die Schmerzen waren schlimmer als zuvor. Er streckte sich mühsam. Das Wohnzimmer war zum Teil auch Küche. Dort hinein ging Valentin und nahm eine Tasse, in der noch etwas Kaffee und ein Metalllöffel waren, stellte die Tasse in die Mikrowelle und schaltete diese ein. Ein starkes Knistern ermahnte Valentin, die Mikrowelle eiligst wieder auszuschalten. Er nahm die Tasse heraus und verbrannte sich die Finger an dem metallenen Löffel. Im gleichen Moment klingelte überraschend sein Telefon. Die Tasse fiel als Ergebnis einer heftigen Bewegung um und der heiße Kaffee lief vorn über Valentins Hose. Valentin brüllte bestialisch laut auf, sprang trotz der Massageschmerzen wie ein angestochener Stier umher und rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den annähernd gargekochten Penis.

      »Wo ist nur dieses gottverfluchte Telefon?«

      Stöhnend und jammernd, mit einer Faust zwischen den Beinen, suchte er nach dem Telefon. Er schlug die Decke seiner Schlafstätte zurück, fand jedoch nur ein abgenutztes, klebriges Pornoheft. Valentin leckte sich kurzzeitig die Lippen, zu mehr war gerade keine Gelegenheit, denn das Telefon klingelte noch immer. Valentin betrat die zwei Quadratmeter großen Feuchtgebiete seines Hartz-IV-Appartements. Neben seiner Gummi-Ente lag das quäkende Telefon auf der Klosettspüle. Sogleich nahm Valentin das Mobilteil in die Hand, setzte sich stöhnend auf die Toilette und genehmigte die Annahme des Anrufes.

      Am anderen Ende meldete sich der Immobilienbesitzer und -händler Dr. Baumann, Valentins Vermieter, ein äußerst vornehmer, arroganter und reicher alter Herr, der von einem ordentlichen Büro aus anrief.

      Valentin erklärte derweil: »Hallo Mutti, dein Anruf kommt gerade sehr ungelegen, ich bin extrem beschäftigt.«

      Worauf Dr. Baumann erbost fragte: »Was erzählen Sie da, Karl? Sie hören doch, hier ist Baumann! Host mi? Dr. Baumann! Sie ahnen zweifelsohne, warum ich anrufe?«

      Der Mieter verzog sein Gesicht. Er schuldete Baumann zwei Mietraten! Doch wovon sollte Valentin die bezahlen? »Hallo? Wer ist da?«, fragte er deshalb erneut. »Hallo? Ich versteh Sie nämlich ganz schlecht! Es knirscht und kratzt, die NSA hört wahrscheinlich mit, ha, ha ...« Valentin lehnte sich resignierend an und betätigte dabei versehentlich die Klospülung, die lautstark gurgelnd losrauschte, worauf der geplagte Mann hochschreckte.

      »Verarschen Sie mich nicht, Karl! Host mi?«, wetterte Baumann derweil am anderen Ende. »Sie sind raus! Host mi? Ein für alle Mal! Host mi? Seit sechs Monaten renn ich der Miete hinterher! Host mi? Ich lass mich nicht zum Affen machen! Host mi? Nicht von Ihnen! Host mi? Und verbrauchen Sie nicht noch mehr von meinem Wasser! Host mi?«

      »Es sind doch nur zwei Monate, Herr Dr. Baumann, wer wird denn so kleinlich ...«

      Der Vermieter unterbrach Valentin scharf: »Halten Sie Ihre Klappe, Karl! Host mi? Morgen früh schicke ich die Müllabfuhr vorbei! Host mi? Dann sind Sie verschwunden! Host mi? Mit all Ihrem Dreckszeug! Host mi? Und dann ... dann will ich Ihr verdammtes hässliches Gesicht nie wieder in einem meiner Häuser sehen, ansonsten werden Sie sich daran gewöhnen müssen, Ihre Mahlzeiten mit einer Schnabeltasse einzunehmen! Host mi? Haben wir uns verstanden? Host mi? Morgen früh um acht Uhr sind Sie Luft für mich! Host mi? Und keine Sekunde bleiben Sie länger in meiner Wohnung! Host mi?«

      Valentin zuckte am ganzen Körper. »Aber Herr Dr. Baumann ... ich ... ich habe im Moment keine Arbeit. Ich ...«

      Am anderen Ende zeterte Dr. Baumann: »Das interessiert mich einen Scheiß, was Sie haben und was nicht! Host mi? Verschwinden Sie in eine andere Stadt! Host mi? In ein anderes Land! Host mi? Auf einen anderen Kontinent! Host mi? Wohin, ist mir völlig egal! Host mi? Von mir aus auf einen anderen Planeten! Host mi? Schröpfen Sie einen anderen Vermieter! Host mi? Morgen früh Punkt acht Uhr haben Sie sich in Luft aufgelöst!«

      Valentin hörte das Freizeichen. »Host mi?«, plapperte er Baumann nach und saß eine mittlere Ewigkeit regungslos auf dem Klo. Minuten später erhob er sich, ging ins Wohnzimmer und schaute sich um. Er suchte und fand eine noch fest verschlossene Flasche Whisky, eine, die er einst zum Geburtstag bekommen, jedoch nie angerührt hatte, weil er Alkohol nicht wirklich mochte. In Trance drehte er den Verschluss ab, setzte die Flasche an die Lippen und trank sie komplett leer. Sein Kehlkopf hüpfte dabei wie wild. Dann stand Valentin kerzengerade und regungslos da und starrte wie ein Toter vor sich hin. Irgendwann rutschte ihm die Flasche aus den Fingern, Valentin Karl verleierte die Augen, fiel einfach so um und lag straff, erstarrt und still auf dem Boden.

      Der nächste Morgen wurde zu einem Albtraum.

      Valentin lag noch immer starr, regungslos und wie tot auf dem durchgewetzten Billiglinoleum, während eine Putzfrau den Boden wischte und Valentin den saftigen, mit Reinigungs- und Desinfektionsmitteln getränkten Scheuerlappen ins Gesicht klatschte. Valentin erwachte schlagartig und sah sich ungläubig um. Die Wohnung war völlig leer und öde. Die türkische Putzfrau warf ihm die Jacke und seine Brieftasche zu und zeigte zur Tür.

      »Çık dışarı!«, zischte sie. »Isch haben hier meine Job zu machen!«

      Valentin, ein immerhin neununddreißigjähriger Mann, rutschte wie ein acht Monate altes Baby auf den Knien rückwärts zur Tür und hatte nur die Jacke und seine leere Brieftasche bei sich. An der Tür erhob er sich schwerfällig und schaute noch einmal zurück. Die Putzfrau drohte ihm zum Abschied mit dem Schrubber. »Çık dışarı!«, zischelte sie erneut.

      Valentin verließ seine vorübergehende Bleibe. Kurz darauf blickte er wieder zur Wohnungstür herein.

      »Ne oldu? Was willst du?«, fragte die Putzfrau mit bösem Blick und drohte mit dem Schrubber, als hätte sie ein Laserschwert in den Händen.

      Valentin kicherte und fragte: »Wissen Sie, was auf dem Grabstein einer alten Jungfer, wie Sie es sind, stehen wird? – Ungeöffnet zurück!«

      Feixend verschwand Valentin im Treppenhaus, während hinter ihm die Einschläge einer türkisch-verbalen Schimpfkanonade niedergingen.

      Das Feixen wich sogleich aus Valentins Gesicht, als er das Dach über dem Kopf verloren sah. Der zerstörte Gentleman schlich auf einem bestens gepflasterten Gehweg entlang. Wie es in jedem guten Drehbuch geschrieben steht, begann es unmittelbar und ausgerechnet in diesem Moment Bindfäden zu regnen. Was wäre dieses Buch sonst wert? Valentin schaute zum Himmel, an dem er eine einzige schwarze, aufgeplusterte Wolke sah. Er zog die Jacke bis über den Kopf, lief von Haustür zu Haustür und zitterte am ganzen Körper, als wäre er ein wandelnder Espenlaubbaum.

      Der Regen nahm zu. Valentin rannte durch die Straßen und verlor alsbald die Orientierung. Einer jener bei gutem Wetter wunderschönen Stadtparks öffnete sich vor ihm. Durch diesen schlich er bald darauf auf der Suche nach Ruhe und menschlicher Abstinenz, erreichte eine Parkbank und ließ sich kraftlos darauf nieder, wie einst der Vater im Erlkönig, ihm grauset’s so sehr, doch kein Kind in seinen Armen ächzte, sondern nur der arme Kerl selbst. Doch kaum spürte Valentin die kriechende Nässe der Parkbanklatten auf seinem Hosenboden, da näherte sich gleich einem Orkan ein heruntergekommener Obdachloser mit einem Einkaufswagen voller Müll. Eben dieser Einkaufswagen fuhr Valentin in diesem Moment mit voller Wucht in die geplagten Beine.

      »Verpiss dich, du stinkender Penner!«,

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