Das Duell des Herrn Silberstein. Horst Bosetzky
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»Wir sehen uns ja alle zu Pessach.« Und Tharah Seligsohn fuhr fort im Morgengebet: »Dein Wille sei es, Ewiger, unser Gott und der Gott unserer Väter, gewöhne uns an deine Lehre, lass uns anhangen deinen Geboten, lass uns nicht zu Sünde, Vergehung und Schuld, nicht in Versuchung und nicht in Schande kommen, lass den bösen Trieb nicht über uns herrschen, halte uns fern von bösen Menschen, von bösen Gefährten …«
DIE SELIGSOHNS wohnten in Strausberg, am nordöstlichen Ufer des Straussees. Tharah Seligsohn handelte mit seidenen Stoffen und Westen und hatte es, obwohl erst 36 Jahre alt, schon zu einigem Wohlstand gebracht. Er war immer bemüht, ein vorbildliches jüdisches Leben zu führen, und hütete das Erbe seiner Väter wie einen Schatz. Das schuldete er schon seinem Vornamen: Denn Tharah war es, der Abram beziehungsweise Abraham gezeugt hatte. Seine Frau Rahel, die acht Jahre jünger war als er, hatte er im Hause des orthodoxen Rabbiners Esriel Hildesheimer kennen und lieben gelernt. Zwei Kinder waren ihnen bisher geschenkt worden: Rebekka, die gerade neun Jahre alt geworden war, und Haran, der zu Purim seinen siebenten Geburtstag gefeiert hatte. Beide wurden von einem Hauslehrer erzogen und gaben zu den besten Hoffnungen Anlass.
Pessach sollte an die Befreiung der Kinder Israels aus der Knechtschaft in Ägypten vor mehr als dreitausend Jahren erinnern. Rahel Seligsohn, unterstützt von Rebekka und ihrem jüdischen Dienstmädchen, hatte mit den Pessach-Vorbereitungen alle Hände voll zu tun. Das Einkaufen war mühsam, denn es mussten alle Lebensmittel vermieden werden, die Chamez enthielten, also Gesäuertes. »Denn wer Gesäuertes isst, die Seele wird aus Israel vernichtet, vom ersten Tage bis zum siebenten Tage.« Chamez war jede der fünf Getreidearten – Weizen, Roggen, Gerste, Hafer und Spelt –, wenn sie für mindestens achtzehn Minuten mit Wasser in Kontakt gekommen war, weil von solcherlei Korn oder Mehl angenommen wurde, dass der Säuerungsprozess begonnen hatte. Nur Mazzot durften gegessen und im Hause aufbewahrt werden: ungesäuerte und auf spezielle Art gebackene dünne Brotscheiben.
Alle Öfen und Herde mussten für Pessach gekaschert, das heißt durch bestimmte Maßnahmen wieder koscher gemacht werden. Bei Gefäßen und Geräten geschah dies mit heißem Wasser, bei Bratpfannen und -spießen, Backblechen, Backöfen und Herden dadurch, dass man sie »glühte«, also der Hitze des Feuers aussetzte.
Als Tharah Seligsohn in der Nacht vor Pessach nach Hause gekommen war, begann die zeremonielle Suche nach Chamez. An ihr hatten die Kinder immer große Freude, denn sie durften vorher Brotstücke verstecken, damit sicher war, dass Chamez auch wirklich gefunden wurde. Tharah Seligsohn zündete eine Kerze an und ging mit ihr von Zimmer zu Zimmer, um Chamez zu suchen. Dann folgten Keller und Dachboden, denn auch hier war vielleicht gegessen worden. Alle Krümel wurden mit einer Feder zusammengefegt und kamen auf einen großen Holzlöffel, um am nächsten Morgen verbrannt zu werden.
»Wie viele Stücke hast du gefunden?«, fragte Rebekka ihre Mutter.
»Vier.«
»Stimmt.« So viele Brotstücke hatten sie versteckt.
Tharah Seligsohn konnte nun Bittul sagen: »Aller Sauerteig und alles Chamez, das in meinem Besitz ist, welches ich nicht gesehen und nicht vernichtet habe, soll nichtig und besitzerlos sein wie der Staub der Erde.«
Die Vorbereitungen für den Sederabend traf Rahel Seligsohn ebenso mit Umsicht wie mit freudigem Herzen. Es war eine Menge zu beschaffen und zuzubereiten: Sellerie und Kartoffeln für den Karpass, ferner Bitterkraut, Maror, oder ersatzweise Meerrettich und schließlich eine bestimmte Mischung aus geriebenen Äpfeln, Nüssen und Wein, mit Zimt gewürzt, die Charosset. Hinzu kamen Wein, Mazza, ein Schälchen Salzwasser, ein auf offenem Feuer gerösteter Knochen und ein gekochtes Ei.
Alles hatte seine tiefere Bedeutung. Die Mazza sollte vor allem an die Eile erinnern, mit der die Israeliten Ägypten zu verlassen gehabt hatten – so schnell, dass der Teig keine Zeit hatte zu säuern. Wein stand für Freude und Frohsinn, für die Erlösung Israels. Das Bitterkraut symbolisierte das Leiden der Israeliten während der Knechtschaft, die Charosset den Mörtel, den sie in Ägypten benutzten, das Salzwasser die im Unglück vergossenen Tränen und der Karpass Fruchtbarkeit und immer neue Hoffnung für die Zukunft. Die Beza, Knochen und Ei, sollte an die Zerstörung des Tempels und die Sklavenarbeit gemahnen, wobei das Ei ein traditionelles Symbol der Trauer war.
Aber noch anderes war auf den Sedertisch zu stellen. So durfte ein Becher Wein für den Propheten Elija nicht fehlen, der das Kommen des Messias ankündigen sollte. Nicht vergessen werden durfte auch, dem Hausherrn, der den Seder gab, drei Scheiben ungesäuerten Brotes und jedem Gast eine Haggada auf den Tisch zu legen.
Das Anmieten der beiden Pferdefuhrwerke, die die Gäste von der Ostbahn abholten, hatte Rahel ihrem Mann überlassen. Es klappte auch alles bestens, und zur festgesetzten Stunde konnte sie ihre Lieben in die Arme schließen. Ihre Eltern waren gekommen, Friedrich und Sarah, ihr Bruder Aaron und ihr Onkel Jason, dazu Meir Rosentreter und dessen Tochter Katharina.
Für die sie argwöhnisch beobachtenden Strausberger waren sie eine verschworene Gemeinschaft, »die Juden« eben, einer gleich dem anderen. Aber das täuschte, denn zwischen ihnen gab es erhebliche Unterschiede. Zählte Tharah Seligsohn zur jüdischen Neo-Orthodoxie und suchte so gesetzestreu zu leben, wie es in der Halacha, dem jüdischen Religionsgesetz, vorgegeben war, so war Jason Silberstein das genaue Gegenteil. Er fühlte sich als freischwebender Intellektueller, ja fast als Atheist, der alles Jüdische nur mitmachte, weil er es so putzig fand. Friedrich, Sarah und Aaron Silberstein, aber auch Katharina Rosentreter wurden den Liberalen zugerechnet. Friedrichs liberales Judentum ging mit einer politisch konservativen und königstreuen Ausrichtung einher, während seine Frau Sarah und sein Sohn Aaron sozialdemokratischen und republikanischen Gedanken ganz und gar nicht abgeneigt waren. Meir Rosentreter schließlich konnte alles sein – es kam immer ganz auf die Haltung seiner jeweiligen Geschäftspartner an. Da die Juden im kleinen Strausberg über kein eigenes Gotteshaus verfügten, musste der Pessach-Abendgottesdienst in der improvisierten Haussynagoge stattfinden. Gleich danach begann der Seder.
Tharah Seligsohn trug jetzt einen weißen Überwurf, ein Zeichen religiöser Reinheit. Er erhob sich aus seinem sofaartigen Sessel, und auch alle anderen standen auf. Die Ordnung des Abends wurde genau eingehalten, aber was richtig war und was nicht, wusste eigentlich nur noch der Hausherr ganz genau. Er zitierte Kiddusch. Danach sagten alle »Amen« und tranken – bis auf die Kinder – den ersten Becher Wein. Er symbolisierte die erste Wendung, mit der Gott die Herausführung seines Volkes aus Ägypten ankündigte.
Dann brachte Rahel einen Becher und eine Schüssel an den Tisch und goss Wasser über die Hände ihres Mannes.
Jeder Anwesende nahm sich nun etwas Gemüse, tunkte es in das Salzwasser und sprach: »Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der die Frucht der Erde geschaffen.«
Tharah Seligsohn griff sich danach die mittlere Mazza und brach sie in zwei Teile. Den einen legte er zurück, der andere wurde in einer Serviette für den Afikoman beiseite gelegt, mit dem das Festmahl beschlossen wurde.
Nun wurde reihum die Geschichte vom Auszug aus Ägypten erzählt, und die Kinder konnten ihre Fragen stellen. Danach trank man, nach einem Segensspruch, den zweiten Becher Wein. Alle standen auf und gingen zum Waschbecken, um sich die Hände zu säubern.
Tharah Seligsohn nahm anschließend die verbliebenen zweieinhalb Mazzot und sagte folgende Segenssprüche: »Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der Brot aus der Erde hervorbringt« und »Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der uns durch seine Gebote geheiligt und uns befohlen hat, Mazza zu essen«. Danach brach er von den Mazzot Stücke ab und gab sie den Tischgenossen zu essen.
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