Das Duell des Herrn Silberstein. Horst Bosetzky
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Jeder bekam nun von der zuvor versteckten halben Mazza, dem Afikoman, ein Stück sozusagen zum Nachtisch.
Die Weinbecher wurden zum dritten Mal gefüllt und nach dem Segensspruch geleert.
Der Hausherr sprach nun einige Psalmen, und man sang Lieder zum Lobe Gottes. Dann wurde der vierte Becher Wein getrunken.
Tharah Seligsohn schloss den Seder mit der Erklärung, dass er hoffe, die Sederfeier habe Gottes Wohlgefallen gefunden. Dann sang man gemeinsam Le-Schana ha-Ba’a bijruschalajim ha-Bnuja – Nächstes Jahr im wiedererbauten Jerusalem!
Rahel Seligsohn war glücklich, die Gäste zufrieden zu sehen. Harmonie in Familie und engem Freundeskreis ging ihr über alles. Nun musste sie die Kinder zu Bett bringen und ihnen noch die dem Tag angemessene Gutenachtgeschichte erzählen. Ihre Schwiegermutter und Katharina Rosentreter baten, sich anschließen zu dürfen. Die Männer nutzten die Gelegenheit, im Herrenzimmer ein wenig zu plaudern.
»Dieses Pessach …« Jason Silberstein lehnte sich weit im Sessel zurück. »Hat das denn sein müssen damals? Wir hätten schön in Ägypten bleiben und da unseren eigenen Staat errichten sollen – Wüste gibt es ja genug dort. Dann hätte keiner in die Diaspora gemusst.«
»Ich bitte dich!« Tharah Seligsohn sah ihn tadelnd an. »Kennst du nicht Salomo 4, Vers 24: ›Schaffe von dir Falschheit des Mundes …‹«
Jason Silberstein lachte. »Bei den Christen klingt das noch viel schöner, da heißt es nämlich: ›Tue von dir den verkehrten Mund und lass das Lästermaul ferne von dir sein.‹ Aber das Lästermaul ist doch das Beste an mir, und Aarons zukünftiger Schwiegervater würde mir auf dieses Kapital sicherlich eine Menge Geld leihen, oder?«
»Aber sicher.« Meir Rosentreter nickte. »›Wie von Fett und Mark ist gesättigt meine Seele, und mit Jubellippen lobsingt mein Mund.‹ Wir müssten nur sehen, dass es in einem der Romane zum Zuge kommt, die du schreiben wolltest.«
Jason Silberstein winkte ab. »Ihr kennt doch den Ausspruch: A jid wet gicher a buch schrajbn ejder kojfn.«
»Können wir bitte deutsch sprechen?«, bat Friedrich Silberstein.
»Ja, Bruderherz. Also: Ein Jude wird ein Buch eher schreiben als kaufen.«
»Das möchte ich für mich nicht gelten lassen, lieber Onkel«, sagte Aaron Silberstein. »Sieh dir meine Bibliothek mal an!«
»Nu, das meiste wird Juristisches sein. Das zählt nicht.« Jason Silberstein ließ sich nicht beirren. »Und mein Bruder hat auch nichts Schöngeistiges im Schrank, sondern nur allerlei übers Bauen und die verschiedenen Baustile, während die Herren, die sich Kaufmann und Banquier nennen, ja unter Büchern etwas ganz Spezielles verstehen, sicherlich nicht den Werther.«
Sowohl Tharah Seligsohn als auch Meir Rosentreter wehrten sich gegen diese Unterstellung, nutzten aber die lästerliche Bemerkung sofort, um auf Geschäftliches zu sprechen zu kommen. Mit anderen Worten: Sie begannen alle drei, heftig zu klagen – der Hausherr über den märkischen Landadel, der für seine Begriffe viel zu knauserig war, Friedrich Silberstein über die mangelnde Baulust der Berliner Bürger und Meir Rosentreter über die viel zu niedrigen Zinsen.
»Uns allen könnte geholfen werden«, sagte Tharah Seligsohn. »Man bräuchte nur das zu tun, was ich euch schon seit langem vorschlage: Baut eine neue Synagoge in Berlin! Der eine entwirft sie, der andere bringt das Geld dafür zusammen. Und ich liefere die Stoffe für die Vorhänge und die Kleidungsstücke für Raw, Chasan und Schamasch.« Für Rabbiner, Kantor und Synagogendiener also.
»Auf die neue große Synagoge in Berlin!«, rief Jason Silberstein. »Es ist doch immer wieder schön zu sehen, wie nützlich der Glaube für die Menschen ist.«
Damit löste er bei den anderen erneut heftigen Widerspruch aus. Tharah Seligsohn warf ihm vor, einem »lästerlichen Rationalismus« anzuhängen.
So ging das noch ein Weilchen, dann zogen sich alle zurück. Für Friedrich Silberstein und seine Familie gab es genügend Zimmer im Hause Seligsohn, während Meir Rosentreter und seine Tochter, auch aus Gründen der Schicklichkeit, sich in ein nahe gelegenes Hotel begaben.
MEIR ROSENTRETER hatte seine Tochter in ihrem Zimmer abgeliefert und merkte, kaum saß er auf seiner eigenen Bettkante, dass er selber noch viel zu munter war, um ans Schlafen denken zu können, so anstrengend solch ein Sederabend auch war. Am liebsten hätte er sich, um sich von allem abzulenken, was ihn bedrückte, auf ein Glas Rotwein in ein gutes Restaurant gesetzt, doch das suchte man in Strausberg ganz gewiss vergeblich. Einen Nachtportier, den er hätte um Rat fragen können, gab es nicht, also nahm er seinen Schlüssel, griff sich eine Laterne, zündete sie an und machte sich einfach auf den Weg. Groß verlaufen konnte man sich in Strausberg kaum, zumal der Mond gerade durch die Wolken brach.
Die Tuchmacherstadt machte einen recht wohlhabenden Eindruck. Seligsohn hatte erzählt, dass ihr aber eigentlich die Garnison das Gepräge gab. Doch es war längst Zapfenstreich und nirgendwo ein Soldat zu sehen. Nach einigen Schritten war Meir Rosentreter am Ufer. Dunkel und drohend und scheinbar endlos wie das Meer lag der See vor ihm. Kalte Nässe zog nach oben, und Rosentreter schien es, als sei sie ein Netz, von den Wassergeistern über ihn geworfen, um ihn einzufangen und zu holen. Schnell wandte er sich ab und lief die Große Straße stadteinwärts. Das Haus mit der Nummer 20 gefiel ihm ausnehmend gut. Er mochte klassizistische Fassaden und konnte nicht verstehen, dass man sich, wie bei den Seligsohns erzählt wurde, beim Bau von Synagogen heutzutage eher an maurische Vorbilder hielt.
Im Mondschein wirkte die Marienkirche, obwohl eine Pfeilerbasilika und aus Feldsteinen errichtet, wuchtig wie der Kölner Dom. Wie gern hätte er sich hingesetzt und sie gemalt. Der Platz vor ihr war menschenleer. Kein Nachtbummler weit und breit, kein Nachtwächter, der seine Runden drehte. Gleich musste es zwölf schlagen, Mitternacht.
Da hörte er plötzlich Schritte hinter sich. Er fuhr herum. Wer Geld verlieh und Jude war, hatte ständig auf der Hut zu sein. Doch den Mann, der nun in den Schein seiner Lampe trat, kannte er sehr wohl.
»Sie folgen mir bis Strausberg …« Rosentreter war fassungslos.
»Ich brauche dringend Geld!« So gedämpft die Stimme auch war – fordernder konnte der Ton nicht sein.
»Wer braucht kein Geld«, murmelte Meir Rosentreter. »Sie wissen, was auf dem Spiele steht …«
Kapitel 2
»ES IST EIGENTLICH eine böse Zeit! Das Lachen ist teuer geworden in der Welt, Stirnrunzeln und Seufzen gar wohlfeil.« So hatte Wilhelm Raabe Die Chronik der Sperlingsgasse beginnen lassen. »Die Menschen haben lange Gesichter und schwere Herzen, und wenn sich zwei Bekannte begegnen, zucken sie die Achsel und eilen fast ohne Gruß aneinander vorbei; – es ist eine böse Zeit!«
Das fand auch Louis Krimnitz, als er am 4. März 1856, einem Dienstag, ruhelos durch die Berliner Innenstadt lief – den Mühlendamm entlang, durch die Spandauer-, die König- und die Klosterstraße. Was ihn trieb, wusste er nicht genau. Es war wohl ebenso die Angst vor dem Alleinsein wie die Hoffnung, per Zufall einem Menschen zu begegnen, der einen Auftrag für ihn hatte. Hier war die Chance am größten, denn zwischen Alexanderplatz und Schloss, Friedrichsgracht und Garnisonkirche war die Stadt am lebendigsten, hier war das Viertel des gewerbetreibenden Volkes