Das Duell des Herrn Silberstein. Horst Bosetzky
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»Das sind doch alles infame Lügen!«, hatte Friedrich Silberstein geschrien.
»Dass er so schreit, ist doch Beweis genug, dass er die Unwahrheit sagt«, hatte Rana lachend entgegnet.
Das Schlimme war, dass die Leute durchweg meinten, die Wahrheit müsse irgendwo in der Mitte liegen und was für Rana Bagatellen seien, das würde sich für Friedrich Silberstein zu einem Drama auswachsen. Kurzum, er sah sich in seiner Ehre verletzt und seine Familie in den Schmutz gezogen, während Rana das Ganze als Triumph genoss und sich in seinem Ruf als Don Juan und Lebemann bestätigt sah. Das nun wurmte Friedrich Silberstein so sehr, dass er in der Fachwelt nichts unversucht ließ, Ranas Fähigkeiten als Baumeister in Frage zu stellen. Und so war denn in einer Monatsschrift, die in der Bauwelt ein großes Renommee genoss, zu lesen, dass bei Ranas letztem Kirchenneubau ein Pissoir Pate gestanden haben müsse und man nur hoffen könne, dass das Dach nicht einstürze, wenn die Leute einmal etwas lauter singen würden. Da viele sagten, die Feindschaft zwischen ihm und Rana würde unweigerlich auf ein Duell hinauslaufen, hatte sich Friedrich Silberstein schon eine Pistole beschafft und übte damit ab und an heimlich in der Wuhlheide.
Immer noch in Rage, zahlte er, verließ das Café und machte sich auf den Heimweg. An der sozusagen runden Ecke, wo die Große Präsidentenstraße in den Hackeschen Markt mündete, besaß er ein ansehnliches Haus, das von seiner Frau aufs Beste gehütet wurde.
Sarah Silberstein entstammte der Familie des ehemaligen Spandauer Schutzjuden Levin Joseph. Der hatte 1777 zusammen mit seinem Bruder Abraham eine Konzession für den Tuchhandel erwerben können, kam aber auf keinen grünen Zweig, weil ihm die christlichen Kaufleute und Gewandschneider das Leben schwer machten. Zudem war er für einen guten Händler viel zu vertrauensselig und gutmütig. Nicht zuletzt aber waren es die hohen Abgaben an die Obrigkeit, die ihn in den Ruin trieben. Schließlich wurde er wegen betrügerischen Bankrotts verurteilt und musste das Land verlassen. Seine Kinder und Enkelkinder wurden in alle Winde verstreut, und Sarah erblickte am 12. Juni 1812 in Dresden das Licht der Welt. Ihr Vater war Rabbiner, und bei einem Besuch in Berlin lernte sie in der Synagoge Heidereutergasse ihren späteren Ehemann kennen. An Friedrich gefiel ihr vom ersten Augenblick an die kraftvolle Art. Er konnte zupacken und etwas Handfestes schaffen. Bauwerke, für die Ewigkeit gedacht. Ganz anders die Männer in ihrer Familie, die alle schlaff und vergeistigt durchs Leben gingen und deren höchstes Glück darin bestand, stundenlang über dem Talmud zu sitzen und zu »klären«, das heißt ein kompliziertes Problem, eine Kasche, scharf zu durchdenken. »Bin ich ein Esel, weil ich dein Freund bin, oder bin ich dein Freund, weil ich ein Esel bin?« Friedrich verbrachte seine Zeit nicht mit der Auslegung von Talmud- und Toratexten, Friedrich baute Häuser, Bahnhöfe und Manufakturen.
Sie brauchte einen solchen Fels, denn sie hatte durchaus etwas Flatterhaftes an sich, und nicht zu unrecht hatte sie einer ihrer frühen Verehrer »mein schwarzer Schmetterling« genannt. Ihr Traum war es gewesen, Schauspielerin zu werden, doch das hatte man ihr gründlich ausgetrieben, obwohl darin wohl ihr wahres Talent gelegen hätte. So verlegte sie sich auf die Schriftstellerei, die ihr von den Eltern erlaubt wurde, jedoch glückten ihr nur holprige Texte.
Zwei Kinder hatte sie zur Welt gebracht, 1826 ihren Sohn Aaron und zwei Jahre später ihre Tochter Rahel. Die zweite Geburt hatte sie sehr erschöpft, und seitdem sah sie blass und zerbrechlich aus. Sie ging auch nicht mehr so gern aus dem Haus wie früher, sondern ließ die Menschen lieber zu sich kommen. Da sie viel las und immer wusste, was in Politik, Dichtkunst und Philosophie gerade en vogue war, galt sie als anregende Gesprächspartnerin. Zwar konnte ihr Salon mit dem einer Rahel Varnhagen nicht ernsthaft konkurrieren, dennoch war er bei Männern von Rang und Namen so beliebt, dass gar nicht alle eingeladen werden konnten, die gern gekommen wären. Bei allem hatte sie aber auch die Interessen ihres Mannes im Kopf, denn der war kein guter Verkäufer seiner Baukunst, wie ihr schien, und neigte immer dazu, sein Licht unter den Scheffel zu stellen, auch war er kein Meister der gepflegten Konversation und schon gar nicht jemand, der andere auszuhorchen wusste und ihnen schmeichelte, wenn es darum ging, Konkurrenten aus dem Felde zu schlagen, um einen lukrativen Auftrag zu erhalten.
Friedrich Silberstein traf seine Frau bei der Lektüre eines Romans. Es war Gottfried Kellers Der grüne Heinrich, wie er sah, als sie das Buch beiseite legte. Er fand es furchtbar langweilig und hatte schon nach den ersten fünf Seiten aufgegeben. Etwas anderes interessierte ihn weitaus mehr.
»War Meir Rosentreter hier?«
Sarah schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Er wollte mir ein Empfehlungsschreiben bringen, für meine Reise nach Mainz, wo sie eine neue Synagoge bauen wollen.«
»Ich kann nur sagen, dass er nicht da war.«
Friedrich Silberstein machte eine Handbewegung, die abwiegeln sollte, denn seine Frau schien ein wenig eingeschnappt zu sein. »Komisch, wo er sonst immer so gefällig und so zuverlässig ist …«
Sarah Silberstein zeigte zur Zimmerdecke hinauf. »Vielleicht weiß Aaron mehr.« Ihr Sohn hatte direkt über ihnen sein Zimmer.
»Wieso soll der was wissen?«
»Weil er sich gestern mit Katharina getroffen hat. Soll ich ihn mal holen?«
»Ja, tu das.«
AARON SILBERSTEIN hörte seine Eltern unten in der guten Stube diskutieren und verspürte wohl unwillkürlich den Wunsch, nach unten zu eilen und seinen Vater zu begrüßen, andererseits war ihm die ungestörte Mittagsruhe ein lieb gewordenes Ritual, und zu gern hätte er noch ein paar Seiten Eichendorff gelesen, ehe er wieder in die Brüderstraße eilte und in seiner Kanzlei auf Klienten wartete.
Der Einsiedler hieß das Gedicht, und leise sprach er den Anfang der zweiten Strophe vor sich hin: »Die Jahre wie die Wolken gehen / Und lassen mich hier einsam stehn, / Die Welt hat mich vergessen …« So weit war er mit Eichendorff völlig d’accord, und den subtilen Schmerz, der den Dichter erfüllte, genoss er wie einen köstlichen Likör. Doch was folgte, ließ ihn zusammenzucken, als hätte ihn ein Messerstich mitten in die Brust getroffen: »Da tratst du wunderbar zu mir …« Eichendorff meinte die tröstende Nacht. Aaron aber bezog diese Zeile auf ein wunderschönes Mädchen. Ein solches jedoch trat nicht in sein Leben, obwohl er kaum an etwas anderes denken konnte als daran, endlich eine Frau zu finden, die er wirklich liebte. Aber wie hatte sein Großvater immer gesagt? Men sol nit betn, di zoress soln sich ojsslosn. Worem as di zoress losn sich ojss, lost sich doss leben ojch ojss – Man soll nicht beten, dass das Leid ein Ende nehme. Denn wenn das Leid aufhört, hört auch das Leben auf.
Aaron Silberstein legte Wert darauf, als das genaue Gegenteil seines Vaters zu gelten, und oft hörte man von ihm die Wendung: »Ich bin ganz anders als er.« Vordergründig schien sich das nur auf den Körperbau der beiden zu beziehen, denn der Senior war untersetzt bis füllig, der Junior aber lang und schlank. In Wahrheit aber wollte er sagen: Ich bin nicht so verknöchert, nicht so preußisch und königstreu wie mein Vater, kein Ewiggestriger, noch immer dem Berliner Biedermeier des Vormärz verbunden. In seinen Jünglingsjahren hatte sich Aaron der Haskala verpflichtet gefühlt, der jüdischen Aufklärung, und Moses Mendelssohn, der »jüdische Luther«, wie sie ihn mitunter nannten, war sein Prophet gewesen. Als Student hatte er sich dann unter dem Einfluss seines Freundes Wilhelm Blumenow immer stärker pantheistischen