Das Duell des Herrn Silberstein. Horst Bosetzky
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Bei aller Kritik an seinem Vater, es gab Phasen, in denen er voller Bewunderung für ihn war und auch ein wenig neidisch. Während er seinen Vater in solchen Stunden als Fels in der Brandung sah, kam er sich selbst wie ein Schiff vor, das von Wind und Wellen hin und her geworfen wurde und kein Ziel hatte. »Ich weiß nur, dass ich nicht weiß, was ich recht eigentlich will«, hatte er in sein Tagebuch geschrieben. Sein Vater hatte es durch Zufall entdeckt und ihn daraufhin verdonnert, Jura zu studieren: Das gäbe Menschen den nötigen Halt, und man könne damit alles werden.
Immerhin war er so zu einem halbwegs erfolgreichen Advokaten mit einer kleinen Kanzlei in der Brüderstraße geworden, doch viel lieber wäre er höherer Beamter im Innen- oder Justizministerium gewesen, wo er ohne jeden Zweifel ebenfalls eine glänzende Karriere vor sich gehabt hätte – wenn er denn Christ gewesen wäre … Seit dem 31. Januar 1850 waren zwar laut Artikel 4 der Verfassung alle Preußen gleichgestellt, auch die Juden. Doch noch immer wurde diesen der Zugang zu öffentlichen Ämtern, höheren militärischen Dienstgraden und universitären Lehrstühlen verweigert.
Zur Welt gekommen war Aaron Silberstein am 9. Mai 1826, dem Tag, an dem sich die Sängerin Henriette Sonntag, die »göttliche Jette«, nach ihrer letzten Vorstellung im Königstädtischen Theater auf dem Alexanderplatz von ihren Berlinern verabschiedet hatte. Unter den vielen Tausenden, die ihr zujubelten, fehlte aus diesem Grunde Sarah Silberstein, und sie verzieh ihrem Sohn nie so recht, dass er sie mit seiner Ankunft um diesen Genuss gebracht hatte. Damals hatten sie noch in der Spandauer Straße gewohnt, und man hatte es nicht weit zur Synagoge Heidereutergasse gehabt. Die war zwar schon am 14. September 1714, dem Sabbat vor dem jüdischen Neujahrstag, eingeweiht worden, doch dass man den Bau einem christlichen Architekten übertragen hatte, dem Michael Kemmeter, wurmte Tharah Seligsohn noch heute. Sein Schwiegervater konnte nicht anders, als ihm in gewisser Weise zuzustimmen, obwohl es ja zu dieser Zeit in Preußen praktisch keine jüdischen Baumeister gegeben hatte. Juden war auch dieser Beruf verwehrt gewesen.
»Und wer darf sie jetzt renovieren und umbauen im klassizistischen Stil? Wieder ein Goi.« Gemeint war der christliche Baumeister und Schinkel-Schüler Eduard Knoblauch.
»Du hättest den Vorsteher aufklären sollen, Vater, denn bei diesem Namen wird er gedacht haben: Nu, das ist einer von uns.«
Diesen Dialog führten sie in regelmäßigen Abständen. Heute aber ging es, kaum war er nach unten gekommen, um Meir Rosentreter. Ob ihm dessen Tochter vielleicht etwas von einer plötzlich anzutretenden Reise gesagt habe, schließlich führe sie ihm den Haushalt?
»Nein. Als wir vom Konzert gekommen sind, habe ich sie mit der Droschke nach Hause gebracht und unten geschellt. Die alte Selma ist nach unten gekommen und hat sie in Empfang genommen. Ihren Vater habe ich nicht bemerkt. Aber es kommt ja öfter vor, dass der auf Reisen ist.«
Friedrich Silberstein war bitter enttäuscht. »Schöne Freunde sind das! Er weiß doch genau, dass sie mich ohne seine Empfehlung die Synagoge in Mainz nicht bauen lassen werden.«
»Wartest du eben, bis es hier in Berlin so weit ist.«
»Da nehmen sie dann den Rana!«
»Sei nicht so verbittert, Friedrich!«, ermahnte Sarah Silberstein ihren Mann.
»Mit chitrekajt kon men doss leben ibergejn, mit farschtand – nit schtendik.«
Das Jiddische war Aaron schon ein wenig fremd geworden, und so brauchte er einen Augenblick, um zu verstehen, was sein Vater eben gemeint hatte: Mit Durchtriebenheit kann man das Leben durchstehen, mit Verstand – nicht immer. »Nun, Mutter kann ja demnächst mal die Leute einladen, die das Sagen haben, wenn sie in Berlin wirklich eine neue Synagoge bauen wollen.«
»Aber am liebsten wäre mir eine große Hochzeit …« Sarah Silberstein sah verträumt aus dem Fenster. »Du und Katharina. Ich habe geträumt, dass ihr euch zu Pessach verloben werdet.«
Aaron hatte Mühe, die Contenance zu wahren. »Mutter, ich bin mit Katharina zusammen aufgewachsen wie mit einer Schwester, und wie soll ich da mit ihr …« Er lief rot an, weil die Worte, die ihm fast über die Lippen gekommen wären, unschicklich waren.
Sein Vater lachte. »Das kommt mit der Ehe.«
»Darauf will ich mich nicht verlassen.« Er wollte hell entflammt sein und nicht nur glimmen.
»Sie ist eine gute Partie«, sagte sein Vater vorsichtig. »Und mit ihrem Geld könnten wir ganz anders dastehen, wenn es um große Bauten geht.«
Die Diskussion wäre noch lange so weitergegangen und hätte sich wie immer im Kreise gedreht, wenn nicht plötzlich sehr heftig am Klingelzug gerissen worden wäre.
Friedrich Silberstein sprang auf. »Ah, doch noch Meir Rosentreter!« Und er gab seinem Sohn einen Wink, zur Tür zu eilen und zu öffnen.
Rosentreter war es aber nicht. Vor der Tür stand nicht der Geldverleiher, sondern der Kommissarius, der für die Gegend um den Hackeschen Markt zuständig war, ein untersetzter, bärbeißiger Mann mit Namen Buntrock, den die Berliner einen »voll geschissenen Strumpf« nannten. Dies allein hätte Aaron Silberstein nicht in Verwunderung versetzt, doch neben dem Polizeibeamten stand kein Geringerer als Dr. Wilhelm Stieber, der Direktor der Kriminalpolizei und Atlatus des Polizeipräsidenten v. Hinckeldey, von Friedrich Engels als einer der »elendsten Polizeilumpen des Jahrhunderts« bezeichnet.
Aaron Silberstein war zu sehr Jurist, um nicht die Kunst der Selbstbeherrschung eingeübt zu haben. Wer sich von seinen Emotionen übermannen ließ, hatte von Anfang an die schlechteren Karten. Also bemühte er sich um eine subtile Ironie. »Ah, die Herren sind gekommen, um Ludwig Urban hier bei mir zu suchen und festzunehmen.«
Das war derart frech, dass Dr. Stieber erst einmal schlucken musste, denn Ludwig Urban, ein Tierarzt, war einer der bürgerlichen Anführer der Märzrevolution von 1848 gewesen und hatte anfangs ausgerechnet ihn, der die Liberalen jetzt gnadenlos jagte, zum Verteidiger gehabt. Doch der Direktor der Kriminalpolizei fasste sich schnell und wurde inquisitorisch. »Das ist ja interessant, dass Sie Ludwig Urban so gut kennen …«
»Ich weiß nur, was alle wissen: dass er in Friedersdorf wohnt.«
»Er will aber nach Berlin zurück, weil es seiner Frau auf dem Dorf nicht recht gefällt«, sagte Dr. Stieber. »Wir dürfen uns dann einmal bei Ihnen umsehen …«
»Aber gern … Auch mein Vater wird sich freuen.« So ausgeschlossen schien Aaron dies gar nicht einmal, erzkonservativ, wie der war. Jetzt erst wurde ihm klar, dass Dr. Stieber vielleicht etwas ganz anderes bei ihm suchte: Schriften seines Freundes Wilhelm Blumenow. Der hatte sich nämlich mit Daniel Benda und einigen anderen zusammengesetzt, um zu überlegen, ob man den »Volksverein«, der sich 1848 aufgelöst hatte, nicht wieder beleben könne und vielleicht die Gründung einer Partei mit dem Namen »Deutscher Volksverein« wagen solle. Aaron selbst liebäugelte eher mit der linksliberalen Fortschrittspartei, die von Rudolf Virchow gegründet worden war, hatte sich aber noch nicht entschließen können, ihr beizutreten. All dies musste bei Hinckeldeys Schnüfflern auf hohes Interesse stoßen, doch sie fanden nichts, sosehr sie sowohl bei Aaron als auch bei seinem Vater alles auf den Kopf stellten.
Als sie wieder abzogen, war der erboster als Aaron selber.
»Wenn sie bei dir alles durchsuchen, dann