Das Duell des Herrn Silberstein. Horst Bosetzky
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AARON SILBERSTEIN machte sich auf den Weg in seine kleine Anwaltskanzlei in der Brüderstraße, die den Schlossplatz mit der Petrikirche verband. Das war vom Hackeschen Markt nicht gerade meilenweit entfernt, aber zu Fuß doch ein ganz schönes Stück, zumal es trotz des nahenden Frühlings nasskalt war. Märzenschnee lag in der Luft. Das Königsschloss, das er als glühender Anhänger der 48er Revolution am liebsten in die Luft gesprengt hätte, umging er weitläufig. Dies auch in der geheimen Angst, einmal so einer zu werden wie der ehemalige Storkower Bürgermeister Heinrich Ludwig Tschech: Der hatte am 26. Juli 1844 im Portal des Schlosses auf den König geschossen. Auf dass Aaron Silberstein gar nicht erst in Versuchung geriet, nahm er den Umweg über die Spandauer Brücke, die Neue Friedrichstraße und die Spandauer Straße in Kauf und erreichte die Brüderstraße, nachdem er die Spree am Mühlendamm überquert hatte und ein Stück die Gertraudenstraße entlanggegangen war, erst an ihrem südlichen Ende, das heißt an der Petrikirche.
»Sand, weeßer Sand!«, schrie ihm jemand ins Ohr. Die Sandwagen kamen aus den Rehbergen im Norden oder vom Kreuzberg im Süden, denn die Hausfrauen brauchten ihn zum Bestreuen der weißgescheuerten Dielen. Als Nächstes hemmte ein Bücklingswagen seinen Lauf, dann ein Kolporteur mit seinem Karren. Der brachte seine Schundromane, seine Geister- und Rittergeschichten in die Dienstbotenkammern, vielleicht auch die Neuruppiner Bilderbogen von Gustav Kühn.
Als Aaron Silberstein die Petrikirche vor sich sah, stieß er fast mit seinem Freund Wilhelm Blumenow zusammen. Der ernährte sich, seit er 1848 auf den Barrikaden gekämpft und dadurch seinen Posten als Assessor im Justizministerium verloren hatte, als kleiner Zeitungsschreiber mehr schlecht als recht und war gezwungen, ständig durch die Stadt zu streifen und auf ein Ereignis zu hoffen, das Stoff für ein paar Zeilen hergab.
»Ich hab was für dich«, sagte Aaron Silberstein, kaum dass sie sich begrüßt hatten.
Blumenow lachte. »Du willst auch konvertieren?«
»Nein. Rosentreter ist ganz offenbar verschwunden.«
»Klar, bevor er dich zum Schwiegersohn bekommt, wandert er lieber nach Amerika aus.«
»Nein, ich bin ernsthaft besorgt: Er hat Katharina nichts von einer Reise oder Ähnlichem erzählt, und es gab auch keinen Streit zwischen ihnen, jedenfalls ist er gestern Abend nicht nach Hause gekommen.«
Blumenow nahm die Sache noch immer heiter. »Es soll ja Frauen geben, die es schaffen, einen Mann wenigstens eine Nacht lang zu fesseln.«
»Unsinn, so einer ist er nicht. Vor Katharinas Mutter hat er keine andere Frau besessen – und nach ihr auch nicht.«
»Hm …« Blumenow sah den Turm von St. Petri hinauf. »Nur der Himmel mag wissen, was da geschehen ist. Aber was interessiert sich der Himmel schon für uns.«
»Gehst du der Sache mal nach?«
»Ja, mache ich.« Wilhelm Blumenow zog seinen Block hervor und machte sich Notizen. Dabei fiel sein Blick auf eine kleine Eintragung, die da lautete: »Tharah Seligsohn hat mir wieder tüchtig die Leviten gelesen.« Er zeigte sie dem Freund. »Hat dir dein Schwager gesagt, dass er mich gestern bei Stehely getroffen hat …«
»Nein, das hat er nicht. Aber kein Wunder, da du in seiner Gunst sowieso ganz unten stehst.«
Der Grund dafür war ganz einfach: Kaum majorenn geworden, war Wilhelm Blumenow konvertiert. »Da es sowieso keinen Gott gibt, sondern der Kosmos ein sinnloser Ablauf chemischer und physikalischer Prozesse ist«, hatte er kühn erklärt, »erscheint es mir völlig egal zu sein, welcher Religion man angehört.« Stark beeinflusst hatte ihn bei dieser Sicht der Dinge ein gewisser Kaspar Schmidt, ein ehemaliger Lehrer aus Bamberg, der 1845 unter dem Pseudonym Max Stirner eine Schrift mit dem Titel Der Einzige und sein Eigentum verfasst hatte. Darin hatte Wilhelm Blumenow zwei Sätze gefunden, die sozusagen sein Leitstern geworden waren: »Meine Sache ist – einzig, wie Ich einzig bin. Mir geht nichts über Mich.« Auf die Religion bezogen hieß das für ihn, dass man reinen Zweckmäßigkeitserwägungen folgen sollte. Und in Preußen war es, wollte man im Staat Karriere machen, zweifellos zweckmäßig, kein Jude zu sein.
Sonderlich glücklich darüber, ein Converso zu sein, war er allerdings nicht, zumal viele seiner jüdischen Freunde und Bekannten, wenn sie auch nicht gleich mit ihm brachen, zornig auf ihn waren, Tharah Seligsohn allen voran. Immer wieder brachte er es zur Sprache.
»Nu, erinnerst du dich nicht mehr an das, was in Spanien mit den Conversos passiert ist?!« Tharah Seligsohn meinte die Zeit um 1400, als infolge sozialer Unruhen und Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung viele tausend Juden zwangsgetauft wurden. Angeregt vom Gegenpapst Benedikt III., hetzten die Prediger die Spanier auf, die Juden zum Christentum zu zwingen. Viele der Conversos stiegen dann auch wirklich auf und bekleideten hohe Ämter in Kirche und Staat. Bekannt war der Dialog, den es zwischen Pedro de la Cavalleria, dem Finanzminister von Aragón und Berater von Alfonso V., und einem Juden gegeben hatte: »Warum warst du so erpicht darauf, ein Christ zu werden, obwohl du in unserem jüdischen Gesetz so bewandert bist?« – »Sei still, Dummkopf! Konnte ich als Jude hoffen, zu einer höheren Position als ein Rabbi aufzusteigen? Wegen eines Gekreuzigten erhalte ich jetzt solche Ehren, und ich befehle in der Stadt Saragossa. Wenn ich am Versöhnungsfest fasten will, wer kann mich daran hindern?« Und Tharah Seligsohn ließ es sich nicht nehmen, dem Freund seines Schwagers zu erzählen, wie übel die Sache ausgegangen war: »Unter den Altchristen gab es Neid und Missgunst, als die Conversos sich hoher Stellungen und großen Reichtums erfreuten – und was machten sie? Sie brachten viele um.« Insbesondere jene getauften Juden, die sie für Marranos hielten. Mit diesem Schimpfwort – abgeleitet von »Schwein« – belegten die Spanier während der Inquisition von 1481 die Neuchristen, die weiterhin heimlich ihrer alten Religion anhingen.
Aaron Silberstein kannte das und fühlte sich eher gelangweilt davon. »Und weißt du, was mein Schwager immer sagt, wenn wir auf dich zu sprechen kommen?«
»Klar.« Blumenow lachte. Dann musterte er Aaron mit einem spöttischen Blick. »Ich weiß genau, warum du nicht gerne hinhörst, wenn ich davon erzähle, überhaupt darauf zu sprechen komme, dass ich konvertiert bin … Na?«
»Keine Ahnung«, sagte Aaron, obwohl er genau wusste, worauf der Freund hinauswollte.
»Du möchtest es auch, wagst es aber nicht und freust dich klammheimlich, wenn dein Vater auf mich einschlägt. Warum? Weil du mir meinen Mut neidest und erbost über dich bist, denn immer nur zu zögern und zu zaudern ist wenig heldenhaft. Und du musst mein Verhalten grässlich finden, um ein Argument dagegen zu haben, es auch zu tun.«
Aaron wollte auffahren, besann sich aber, weil er sich eingestehen musste, dass der Freund nicht ganz im Unrecht war. Schnell wechselte er das Thema. »Ehe ich’s vergesse, abgelenkt von der Sache mit Rosentreter: Der Dr. Stieber war bei uns zu Hause.«
»Als Gast?« Blumenow sah ihn verständnislos an. »Dein Vater ist doch Baumeister und kein Lumpenhändler.«
»Nicht als Gast war Dr. Stieber bei uns, sondern zur Hausdurchsuchung – und ich bin mir sicher, dass er deinetwegen da war.«
Blumenow schmunzelte. »Ist doch schön, wenn man in einem solchen Maße ernst genommen wird. Je brutaler die Reaktion zuschlägt, desto größere Chancen haben wir. Die preußische Regierung riecht den Atem der Revolution inmitten der scheinbaren Apathie und greift an. Aber damit bewirkt sie nur, dass sich der passive Widerstand in einen aktiven wandelt.«
Aaron Silberstein war hellhörig geworden. »Das