Chris Owen - Die Wiedergeburt. Matthias Kluger
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Читать онлайн книгу Chris Owen - Die Wiedergeburt - Matthias Kluger страница 27
»Schön.« Miss Rudolph lächelte besänftigend, als sie zur letzten, für sie offenbar entscheidenden Frage ausholte. »Welches Buch hast du denn zuletzt gelesen?«
Jetzt gibt es kein Entrinnen, überlegte Chris. »Tom Jones. Die Geschichte eines Findlings«, antwortete er wahrheitsgemäß.
Das Erstaunen hierüber spiegelte sich im Gesicht der Lehrerin wider. Sie hatte zwar von diesem Roman gehört, ihn aber nicht gelesen. Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Dann kommen wir zu dir – du musst Alica sein. Hab ich recht?«
Die Banknachbarin von Chris lächelte, während sie zustimmend nickte. »Ich heiße Alica Adams und bin bald sieben. Meine Hobbys sind …«
»Hamburger«, flüsterte Scott Fitzgerald gerade so laut, dass es jeder in der Klasse hören konnte. Alle lachten des gemeinen Spaßes wegen, außer Chris, Miss Rudolph sowie Alica selbst.
»Scott Fitzgerald. Wie ich höre, hast du der Klasse etwas mitzuteilen. Allerdings ist es mir offenbar entgangen, dass ich dich um einen Beitrag gebeten habe.« Die knappe Ansage der Lehrerin saß. Mit eingezogenem Kopf war Scott nicht in der Lage, dem Blick von Miss Rudolph standzuhalten. Seine Gesichtsfarbe glich sich den roten Sommersprossen an. »Also, Alica, fang noch mal an!«
Doch Alica war außerstande, zu antworten. Zwei Tränen rollten ihr langsam über die feisten Wangen.
»Alica Adams. Sie heißt Alica Adams. Sie liebt es, morgens in den Garten zu gehen, dann, wenn sich die ersten Sonnenstrahlen im Tau der Blätter spiegeln. Ihr bester Freund heißt Sammy, ein munterer Cocker Spaniel, der ebenfalls mit in den Garten kommt. Wenn sie nicht gerade ihrer Mutter helfen muss, malt sie gerne. Bunte Bilder von Regenbogen und hohen Bergen.«
Alica blickte verwundert und mit offenem Mund ihren Banknachbarn an.
»Danke, Chris. Wie ich sehe, kennt ihr beiden euch schon länger. Jetzt zu dir.« Miss Rudolph deutete auf den nächsten Schüler.
Nachdem sich alle der Klasse vorgestellt hatten, verteilte Miss Rudolph weiße Blätter mit Buntstiften und bat ihre Schützlinge, den jeweiligen Sitznachbarn zu malen. Gelächter erfüllte das Klassenzimmer, als die Kinder an der Entstehung von vierzehn Portraits arbeiteten.
Chris fand, dass Alica ihn gut getroffen hatte. Sie löste das Problem der Darstellung seiner hellen Haut, indem sie nur die Konturen mit schwarzem Bleistift malte. So hatte der Betrachter es selbst in der Hand, die Hautfarbe zu bestimmen. Neben einer komisch aussehenden Nase, die mehr einer Litfaßsäule glich, stachen die Augen aus dem Bild hervor. Sie waren im Gegensatz zu der mit schwarzem Stift gemalten restlichen Zeichnung durch rot leuchtende Kreise dargestellt.
Als Miss Rudolph durch die Bankreihen lief, blieb sie am Platz neben Chris stehen. Das, was sie auf dem Bogen des Schülers gezeichnet sah, verschlug ihr den Atem. Das war kein Gesicht, wie es ein Sechsjähriger malt! Vielmehr glich es einem flüchtigen Entwurf der großen Meister des 18. oder 19. Jahrhunderts. An dem gekonnten Strich erkannte man auf Anhieb Alica, auch wenn sie auf dem Portrait wenigstens zwanzig Pfund weniger zu wiegen schien.
»Erstaunlich, Chris. Du hast verschwiegen, dass Malen ebenfalls zu deinen Hobbys zählt.« Sie drehte sich zur Klasse, als ein klangvoller Gong die Pause einläutete. »Kinder, ich gehe vor und zeige euch den Park, den ihr in den Pausen aufsuchen könnt. Nehmt eure Brote, oder was ihr sonst zu essen dabeihabt, mit.«
Lautes Gepolter und Stimmengewirr hatte den Flur außerhalb des Klassenzimmers eingenommen. Dutzende Schüler aller Altersstufen drängten Richtung Erdgeschoss, hinaus aufs freie Gelände. Nachdem sie draußen angekommen waren, packte Chris seinen Müsliriegel aus und bot Alica an, zu teilen.
»Danke, aber ich habe selbst etwas mit.« Sie zog ein Knäckebrot aus der Tasche, welches mit einer Scheibe trocken aussehender Wurst belegt war. Eindringlich sah Alica Chris an. »Woher weißt du, dass ich morgens in den Garten gehe und wie mein Hund heißt?«
»Ich weiß es eben«, grinste Chris und schob den Rest des Riegels in den Mund.
»Du weißt es eben?«, fragte Alica.
Chris nickte.
»Egal, woher du es weißt, danke.« Alica lächelte.
Kapitel 33: Der Besuch
Washington, D. C., Oktober 2022
»Bitte, kommen Sie herein.«
»Schön, dass Sie die Zeit gefunden haben, Mrs. Owen.«
»Wenn ich über etwas verfüge, dann ist es Zeit, Miss Rudolph«, grinste Sandra. »Na ja, die Kinder rauben sie einem schon.«
»Sind sie denn hier?«, fragte Miss Rudolph.
»Nein; Marc, mein Schwager, ist mit ihnen zum Footballspiel der Redskins gefahren. Somit haben wir alle Zeit der Welt. Wollen wir Tee auf der Terrasse trinken? Es ist ja noch angenehm warm im Freien.«
Miss Rudolph folgte Sandra in den Garten und nachdem diese den Tee eingeschenkt hatte, machten es sich beide in den Gartenstühlen bequem.
»Unsere Direktorin, Mrs. Doyle, hatte mich bei der Einschulung schon auf Chris aufmerksam gemacht. Sie schilderte mir das Gespräch, welches sie mit Ihnen geführt hatte.«
Sandra schwieg, denn bis hierher waren ihr diese Fakten bekannt.
»Sie fragen sich bestimmt, warum ich heute hier bin.«
»Ich hoffe, Sie werden es mir gleich verraten«, antwortete Sandra.
»Mrs. Owen, zugegeben, ich bin noch eine junge Lehrkraft; also, was ich damit sagen will, ist: Mein Erfahrungsschatz Schüler betreffend hält sich gewiss in Grenzen, doch man braucht kein Hellseher zu sein, um die fantastische Entwicklung von Chris zu erkennen.«
»Sie sagen es«, erwiderte Sandra, noch immer im Dunkeln tappend, worauf Miss Rudolph hinauswollte.
»Chris ist definitiv seinen Altersgenossen um Jahre voraus.«
»Um wie viele Jahre?«, hakte Sandra nach.
»Genau das ist der Punkt, warum ich um das Gespräch gebeten habe. Ich kann es Ihnen nicht sagen. Und eben das birgt eine enorme Gefahr.«
»Von welcher Gefahr sprechen Sie? Doch nicht von Chris ausgehend?«
»Nein, nein, verstehen Sie mich nicht falsch! Meine Befürchtung ist, dass Chris in die falschen Hände gerät. Noch nie habe ich einen sechsjährigen Jungen mit derart herausragenden Fähigkeiten erlebt. Tatsächlich existieren Einrichtungen, welche speziell für Hochbegabte konzipiert sind. Doch ist es wirklich das, was Sie für Ihren Sohn wollen?«
»Ich bin mir nicht sicher, Miss Rudolph. Was hätte es für Konsequenzen?«
»Wenn Sie meine ehrliche Meinung hören wollen, schockierende. Gleich einem Versuchskaninchen rauben wir ihm seine Jugend. Er mag zwar ausgesprochen intelligent sein, doch für die Entwicklung eines Kindes ist das soziale Umfeld der Familie und Freunde durch nichts anderes ersetzbar.«
»Sie