Chris Owen - Die Wiedergeburt. Matthias Kluger

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Chris Owen - Die Wiedergeburt - Matthias Kluger

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und Janette werden sicher auch gleich kommen. Denke nicht, dass Lea sie lange schlafen lässt – ach, wenn man vom Teufel spricht.«

      »Morgen Mom, Dad.« Marc kam ums Eck gebogen, nur in Shirt und Boxershorts bekleidet, die blonden Haare vom Schlaf zerzaust. Er drückte seiner Mutter Olivia einen flüchtigen Kuss auf die Wange und fragte: »Wie spät ist es?«

      »Kurz nach acht«, antwortete Sandra mit einem Nicken zur Küchenuhr.

      »Ihr seid zeitig dran, was, Mom?«

      »Na, wir wollten nichts verpassen und wussten nicht so recht, wann ihr frühstückt.«

      »Jetzt wissen wir’s«, schmunzelte Fredrik, die Hand an der Fruchtpresse.

      »Janette wird auch gleich hier sein. Macht gerade Lea fertig.«

      »Wie geht es Lea?«, fragte Olivia ihren Sohn.

      »Gut so weit. Professor Collins meint, dass sie alles sehr gut wegsteckt.«

      »Wann fahren wir zum Grab?«, unterbrach Fredrik.

      »Ich dachte, gleich nach dem Frühstück. Da ist die Luft noch schön kühl und rein. Anschließend sind wir mit dem Mittagessen beschäftigt und heute Abend werden wir zu tun haben, Lea ins Bett zu bringen.«

      Kurz nach zehn Uhr standen alle angezogen im Foyer. Auf zwei Jeeps verteilt fuhren sie zum Nationalfriedhof Arlington, der unweit des Weißen Hauses auf der gegenüberliegenden Seite des Potomac Rivers lag. Der Tag war sonnig, die Luft so, wie Sandra versprochen hatte: klar und kühl.

      Als sie vor dem gewichtigen Grabstein aus Marmor standen, betrachteten sie dessen Inschrift.

       Chris Owen

       * geboren am 30. Mai 1984 † gestorben am 17. Juni 2014

      Sie hatten bewusst nicht Stephens Namen gewählt, um zu verhindern, dass seine letzte Ruhestätte zum Pilgerort wird.

      Stephen Haskins, alias Chris Owen, wurde in einem Atemzug mit Martin Luther King genannt, nachdem er 2012 in einem landesweit verfolgten Prozess als Anwalt jenen weißen Polizisten vertrat, der einem Schwarzen während einer routinemäßigen Fahrzeugkontrolle acht Kugeln in den Rücken schoss. In monatelangen Verhandlungsmarathons gelang es Stephen Haskins als Verteidiger zunächst, alle Annahmen zu zerstreuen, die die Schuld seines weißen Mandanten nahelegten. Er hatte die Jury aus zwölf Geschworenen bereits auf seiner Seite, als er plötzlich – mitten in seinem Schlussplädoyer – das Blatt wendete.

      Seine Rede vor Gericht dauerte gerade einmal dreißig Minuten. Danach war allen im Gerichtssaal, im ganzen Lande bewusst, dass er Geschichte geschrieben und den schwarzen Menschen weit über die Vereinigten Staaten hinaus zu ihrem Recht verholfen hatte. Zwar entzog man ihm den Fall, doch über Nacht war er zum Symbol der Farbigen geworden, weit über die Landesgrenzen der USA hinaus.

      Zeitgleich mit der erlangten Berühmtheit wurde er Feind Nummer eins aller Rassisten, die ihm nach dem Leben trachteten. Zum Schutz seiner Person, seines Lebens, änderte das FBI seine Identität: Aus Stephen Haskins wurde Chris Owen. Als Weißer geboren, zu einem Schwarzen mutiert, starb Stephen Haskins, alias Chris Owen, durch ein Attentat in der Mother Emanuel African Methodist Episcopal Church in Charleston.

      Schon von Weitem war ihnen der imposante Baum am Grab aufgefallen und Fredrik war der Erste, der nun danach fragte: »Hast du diesen Baum gepflanzt? Der ist ja riesig.« Fredrik blickte zu Sandra, die an Meiras Kinderwagen stand.

      »Nein, ich dachte bis jetzt, ihr hättet ihn hier einpflanzen lassen.«

      »Schöner Baum«, meinte Marc, »aber von uns ist er auch nicht.« Marc lief um den Grabstein herum. »Man könnte meinen, er steht schon immer da. Der Stamm hat mindestens einen halben Meter Durchmesser.«

      Kaum hatte Marc die Worte ausgesprochen, als eine Schar Sperlinge aus der Baumkrone aufwirbelte und im quirligen Durcheinander in die Höhe flog. Etwas erschrocken sahen alle den Vögeln nach.

      »Ich werde mich gleich nach den Feiertagen bei der Friedhofsverwaltung informieren. Seltsam, dass man es überhaupt zulässt, so ein ausladendes Gewächs auf diesem Friedhof und dann noch direkt an einen Grabstein zu pflanzen«, meinte Fredrik.

      Sandra legte den mitgebrachten Kranz ab, hob den roten gläsernen Windschutz an der Grablampe hoch und zündete die darunter angebrachte Kerze an. »Frohe Weihnachten, Stephen.« Ihre Augen wurden feucht. »Autsch.« Sandra bückte sich leicht und hielt den Bauch.

      »Was ist los, Kind?«, fragte Olivia besorgt und ging einen Schritt auf ihre Schwiegertochter zu.

      »Nichts weiter, aber gerade hat es in meinem Bauch getreten.«

      »Das wäre aber früh, so Anfang des dritten Monats«, orakelte Janette. »Geht es dir wirklich gut?«

      »Ja, ja, ist nichts. Aber schon seltsam. Da bin ich gespannt, was meine Frauenärztin bei der Voruntersuchung sagt. Wenn es jetzt schon tritt! Das kann ja was werden!«

      Janette betrachtete Sandra im Versuch sich zu erinnern, wann sie das erste Mal Lea im Bauch gespürt hatte. Das musste im vierten oder fünften Monat gewesen sein.

      Sie standen weitere Minuten schweigend am Grab und gedachten Stephens. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach – durchweg waren sie liebevoll, geprägt von Stolz und Trauer.

      »So, wenn wir den Braten heute noch essen wollen, sollten wir uns wieder auf den Weg machen«, meinte Sandra und rief zum Aufbruch.

       Kapitel 7: Der Missionar

       Changchun, Nordosten Chinas, 1878

      William Lockhart lief durch die Straßen Changchuns; der Schweiß rann ihm in die Augen, während die Sonne unerbittlich die Luft zum Glühen brachte. Es roch bestialisch nach verwestem Fleisch, doch nicht der Gestank verschlug ihm den Atem – nein, es war der Anblick des Grauens, das sich seinem Auge entsetzlich real darbot. Ausgemergelte Leiber lagen in den Gassen, doch niemand schien sich darum zu kümmern. Kinder, Greise, Männer, Frauen – alle waren sie davon betroffen. Gerade als er dachte, er habe in seinem Leben noch nie derart schwer zu Ertragendes gesehen, schreckten ihn Schreie auf. Sie drangen aus dem gegenüberliegenden Haus. Ohne weiter darüber nachzudenken, überquerte er raschen Schrittes die Straße und betrat die Türschwelle.

      Im Inneren fand er eine Frau vor, deren Alter er aufgrund des abgemagerten Körpers nicht schätzen konnte. Sie kniete vor einem Bett, in dem ein Mädchen lag. Die Wangenknochen des Kindes ragten hervor, der geöffnete Mund ließ wenige, von Fäulnis befallene Zähne erkennen. Die Augen der Kleinen waren geschlossen. Hinter der wimmernden Frau stand ein gebeugter Mann mit schütterem Haar, dessen hängende Hose dünne, knöchrige Beine vermuten ließ.

      »Nicht Lien, nicht meine Lien«, schluchzte die Frau und stieß die Hand, welche der Mann ihr besänftigend auf die Schulter legte, von sich. Der Magere wandte sich daraufhin ab, war im Begriff, auf einen Holzschemel zu sinken, als er den Missionar Lockhart an der Tür erblickte. »Wer sind Sie?«, fragte er und sowohl sein Blick als auch seine Stimme waren gebrochen.

      »Mein Name ist William. Ich habe Schreie gehört und dachte …«

      »Was wollen Sie?«

      Im

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