Das Mädchen mit den Schlittschuhen. Michael W. Caden
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Das Mädchen mit den Schlittschuhen - Michael W. Caden страница 6
»Sind wir gleich da, Heinrich?«
»Ja, gleich. Da unten links, da ist es…«
Wie konnte er nur fragen. Natürlich da unten in der Senke ging es nach links und dann waren es noch 200, 300 Meter.
Heinrich setzte den Blinker.
Eine Betonpiste hatten sie über den einstmals schönen sandigen Boden gezogen. Harten Beton …! Der Wagen ruckte unentwegt. Dann sah Albert bereits die Hausecke. Es war ein Reihenhaus. Vier Familien wohnten dort. Die Koslowskis, die Wohlgemuths, Wagners und … die Steinkys.
Der Wagen stand vor dem Eingang zur Wohnhaushälfte. Der Motor lief leise. Ohne etwas zu sagen blickte Albert auf das alte Backsteinmauerwerk. Ja, das war sein Elternhaus. Kaum etwas hatte sich verändert. Sicher, es war in die Jahre gekommen. Die vergangenen sechzig Jahre waren keinesfalls spurlos an dem Gebäude vorbeigegangen. Das Dach war nie erneuert worden, der Putz marode. Farbe hatte das Haus offenbar in den letzten Jahrzehnten ebenfalls nicht zu sehen bekommen. Aber das alles spielte für Albert jetzt keine Rolle. Das Haus, es stand noch, und es war ein schönes Haus. Das schönste in Klotainen, im ganzen Ermland, in ganz Ostpreußen. Es war sein Elternhaus, und das sollte es bleiben, so lange er auf dieser Welt weilte.
»Sollen wir aussteigen und anklopfen?«, fragte Heinrich.
Albert war tief in seine Gedanken versunken. Heinrich hakte nach.
»Sollen wir reingehen?«
»Was?
»Möchtest du in das Haus gehen?«
Albert war nicht wohl bei dem Gedanken. Er zögerte, konnte keinen klaren Gedanken fassen. Die Gefühle spielten verrückt.
»Ich weiß nicht. Ich… Ich glaube, ich kann es nicht. Vielleicht wollen die Leute uns gar nicht hier haben. Vielleicht verängstigen wir sie nur? Vielleicht hassen sie die Deutschen …? Nein, Heinrich. Später … lass uns später noch einmal herkommen. Komm Heinrich – fahr. Wir kommen später noch einmal wieder. Fahr! Bitte fahr!«
Heinrich zögerte einen Augenblick.
»Wohin?«, fragte er vorsichtig.
»Ich weiß nicht. Nur weg von hier, Heinrich. Nur weg…!«
Heinrich legte den Rückwärtsgang ein.
»Dann fahren wir nach Siegfriedswalde zur Kirche – oder?«
»Ja, zur Kirche…. Das ist eine gute Idee. Komm Heinrich, fahr zur Kirche!«
Heinrich steuerte den Fiesta zurück zur Chaussee. Auf der gegenüber liegenden Seite zur Ausfahrt war ein kleiner Altar aufgebaut. Eine alte Frau steckte ein paar Blumen in eine Vase. Albert nahm keine Notiz davon. Seine Gedanken zu ordnen, es fiel ihm schwer in diesem Augenblick. Warum war er nicht in das Haus gegangen? Hatte er Angst davor, dass ihn die Vergangenheit auf diesen wenigen Quadratmetern Wohnfläche einholen würde? Dass sie ihn lähmen, ihm die Luft abschnüren würde? Nach etwa fünf Kilometer Wegstrecke erreichten sie Siegfriedswalde. Albert wollte nur jetzt noch eins: raus aus dem Auto.
»Halt an, Heinrich. Ich muss mir etwas die Beine vertreten.«
Heinrich versuchte seinen Begleiter zu beruhigen.
»Schau doch, wir sind gleich da. Schau, da vorne ist schon die Kirche.«
»Zum heiligen Johannes von der lateinischen Pforte« hatte man das kleine, stolze Kirchlein einst getauft. Auf den ersten Blick schien es kaum verändert. Das Gotteshaus war am 4. Juli 1912 eingeweiht worden. Es war die dritte Kirche in der langen Geschichte der Gemeinde.
Heinrich stoppte das Auto auf dem kleinen Parkplatz vor dem Gotteshaus. Sie stiegen aus und gingen durch das unverschlossene Tor. Neben dem Pfarrhaus hinter dem mächtigen Backsteinbau hatte sich ein Storchenpaar in einem Nest auf dem Mast einer Überlandleitung häuslich eingerichtet. Das Männchen klapperte mit dem langen Schnabel, was das Zeug hielt.
Kurz vor dem Kirchenportal blieb Albert stehen. Er musste daran denken, wie er als Kind hier mit seinen Eltern jeden Sonntag zur Heiligen Messe pilgerte. Den ganzen Weg von Klotainen hinauf, immerhin fünf bis sechs Kilometer.
»Hier sind wir sonntags immer zur Kirche gegangen. An Sonntagen wurden sogar zwei Messen gehalten, die eine um 7 Uhr, die andere um 10 Uhr.«
Heinrich nickte, so als wolle er ihm beipflichten.
»Wir gingen meistens zu Fuß. Bei ganz besonderen Anlässen fuhren wir auch schon mal mit dem Pferdewagen unserer Nachbarn. Bei meiner Kommunion etwa.«
Albert grinste.
»Männlein und Weiblein mussten immer getrennt voneinander sitzen. Einmal, da hatte ich meine Matrosenmütze noch aufbehalten. Da kam Mutter von hinten und fegte sie mir mit einer Handbewegung vom Kopf.«
Albert wollte seinem Begleiter gerade erzählen, wie er als Messdiener mit einem Burschen aus der Nachbarschaft heimlich den Messwein des Pfarrers verkostet hatte, als er ein Geräusch wahrnahm. Er drehte sich um und erblickte einen Mann in einem schwarzen Talar, der höflich grüßte.
»Dzien dobry.«
Albert und Heinrich erwiderten den Gruß. Es handelte sich ganz offensichtlich um den Gemeindepfarrer. Es war ein Mann mittleren Alters. Er trug eine runde Brille, hatte dunkle Haare, die er mit einem Seitenscheitel nach links gekämmt hatte.
Heinrich und der Geistliche redeten ein paar Sätze in Polnisch miteinander, dann wandte sich der Dolmetscher Albert zu.
»Ich habe den Herrn Pfarrer über den Grund unseres Besuches aufgeklärt. Er findet das wohl recht interessant und lädt uns ins Pfarrhaus ein. Möchtest du?«
Albert nickte zustimmend.
Das Pfarrhaus, ebenfalls aus roten Backsteinen gebaut, lag direkt hinter der Kirche. Dort wartete die Haushälterin, eine kleine, korpulente Frau, schon an der Eingangstür. Der Pfarrer rief ihr etwas zu, was Albert nicht verstehen konnte. Er schien ihr offensichtlich zu verstehen gegeben zu haben, dass er einen Gast aus Deutschland mitbringt, denn sie begrüßte die unerwarteten Gäste nunmehr in gebrochenem Deutsch.
»Sind Sie willkommen ganz herzlich. Bitte, kommen Sie herein.«
Die Haushälterin reichte den Gästen die Hand und führte sie durch die Diele in einen Wirtschaftsraum.
»Wir haben Kaffee und Kuchen für Sie. Nehmen Sie doch Platz, bitteschön», forderte sie die Gäste auf und reichte jedem als Willkommenstrunk ein kleines Gläschen Wodka, dem auch der Pfarrer nicht abgeneigt war.
Der Pfarrer und seine Gäste nahmen Platz an einem Tisch, während die Wirtschafterin den Kaffee in die Tassen goss. Dann reichte sie einen Erdbeerkuchen dazu, den sie zuvor aus der Küche geholt hatte. Albert, Heinrich und der Pfarrer bedankten sich.
Zwei Stunden blieben sie im Pfarrhaus. Albert erzählte dem Pfarrer von seiner Jugendzeit in Klotainen, von seinem Elternhaus, von der Schule und von der Arbeit auf dem Rittergut. Der polnische Geistliche hörte andächtig zu, während