Das Mädchen mit den Schlittschuhen. Michael W. Caden

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Das Mädchen mit den Schlittschuhen - Michael W. Caden

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kannst die Schuhe gerne haben. Aber nur unter einer Bedingung«, machte Karlchen seinem Bruder unmissverständlich klar.

      »Und unter welcher?«, fragte Albert ungläubig.

      »Wenn ich heute Abend deinen Nachtisch bekomme!«

      »Den eingemachten Kürbis?«

      »Ja, den Kürbis!«

      »Muss das sein?«

      Eingemacht mochte ihn Albert für sein Leben gern.

      »Ja!«

      »Na denn … Ja, kannste haben. Also her mit den Schlittschuhen!«

      Ungeduldig griff Albert nach den blinkenden Kufen. Es war Ende 1944, der erste längere Frost hatte Besitz vom Land ergriffen. Seit Tagen war es bitterkalt geworden. Eine dicke Eisdecke hatte den See überzogen.

      »Ich bin in einer Stunde wieder zurück. Sag mir Bescheid, wenn Mutter früher von der Arbeit kommen sollte«, rief Albert seinem Bruder zu, während er die Schlittschuhe unter die Arme packte und zur Haustür rannte.

      »Mach ich. Und nicht vergessen: Den Kürbis bekomme ich!«, rief Karlchen ihm hinterher.

      »Natürlich! Kriegste.«

      Albert lief zum Teich, der sich direkt hinter dem Haus befand. Er hockte sich auf eine kleine Bank, die dort stand. Mit zwei, drei Griffen streifte er den blinkenden Stahl über die Schuhe. Es waren seine Sonntagsschuhe, die er immer zum Kirchgang anziehen oder zu anderen festlichen Anlässen tragen musste. Wenn das Mutter wüsste …! Dann würde es etwas setzen.

      Mit wenigen schnellen Schritten glitt er über den vereisten Teich weiter auf der eisigen Rinne des kleinen Baches Richtung See. In der Senke nahm Albert auf der Straße in Richtung Siegfriedswalde einen dunklen Punkt wahr, der sich langsam bergabwärts bewegte. Albert stoppte abrupt. Die Kufen krallten sich ins Eis. Eiskristalle spritzten über den kleinen Bachlauf. Was zum Teufel ist das?

      Albert wartete, bis sich aus dem kleinen schwarzen Punkt erste Konturen abzeichneten. Er erkannte einen Wagen. Es war ein alter, klappriger Leiterwagen, so wie in Klotainen einer bei Urbschats hinter der Schmiede stand. Vorne auf saß ein vermummter pummeliger Mann, eine Kapuze über den Kopf geschlagen, darunter einen Hut. Sein Atem dampfte. Hinten an dem seltsamen Gespann hatte er eine Kuh angebunden. Der Wagen selbst war mit einer Plane zugedeckt. An der Seite klapperte ein Eimer am Holz, so alt wie ein Gewehr aus der Rüstkammer von Plibischken. Nebenher lief ein bis fast auf die Knochen abgemagerter Schäferhund.

      Bei dieser Kälte zieht jemand mit dem Wagen übers Land?

      Albert kam dies nicht geheuer vor.

      Der Mann mit dem Gespann hielt an.

      »Na, Jungelchen. Wo willste denn hinne? Schlittschuhlaufen?«

      »Ja, drüben auf dem See«, stammelte Albert leicht verdutzt. Er hatte nicht damit gerechnet, dass der Fremde ihn ansprechen würde.

      »Wo wollen Sie denn bei dieser Kälte hin?«

      »Gen Westen will ich. Da wo du und deine Leute auch bald hingehen werden. Gen Westen

      Albert versuchte, sich den seltsamen Mann näher anzuschauen. Doch er sah kaum seine Nasenspitze.

      »Warum, Väterchen, sollten wir denn nach dem Westen gehen?«

      »Deiwel noch eins! Hat man dir das noch nicht gesagt? Weil de Russen kommen! Deshalb!«

      Die Russen kommen? Nach Ostpreußen? Albert wusste, dass die Front näher gerückt war. Mutter hatte heimlich am Volksempfänger gelauscht, und sie hatte ihm erzählt, dass sie Klotainen möglicherweise verlassen müssen. Sollte es wirklich bald soweit sein? Alles lief doch so wie sonst! 1944 war ein gutes Jahr, hatten die Bauern im Dorf gesagt. Die Ernte war ohne große Verluste geborgen worden, die Scheunen gefüllt. Mitte Oktober war auch die Hackfruchternte abgeschlossen worden. Die Keller waren ebenfalls gefüllt, und die Bauern hatten schon vor Wochen die Winterfurchen auf ihren Äckern gezogen.

      »Ach wo, hier kommen doch keine Russen. Das würde der Führer niemals zulassen.«

      »Das, Jungchen, das Zeugs haben die Leute in meinem Heimatdorf auch gefaselt. Doch zum Schluss hat keiner dort mehr an den Endsieg geglaubt, nicht mal die Nazibonzen selbst. Und diejenigen, die geblieben sind, die sind fast alle tot. Glaub mir Jungchen: Der Tod macht keinen Unterschied zwischen Nazis und einem aufrechten Ostpreußen.«

      Noch immer sah Albert nur den Dampf des Atems, der sich wie ein undurchdringlicher Schleier vor das vermummte Gesicht gelegt hatte.

      »Wo kommen Sie her?«

      »Aus dem Memelland, aus der Nähe von Tilsit. Und ihr, ihr solltet auch auf der Hut sein. Unterwegs habe ich die ersten russischen Aufklärungsflugzeuge gesehen. Die waren ziemlich hoch. Aber man konnte sie deutlich ausmachen.«

      »Ach Väterchen, das waren bestimmt die unsrigen!«, versuchte Albert ihm entgegen zu halten.

      »Jungchen, sag deinen Eltern, sie sollen den Wagen packen. Auch wenn sie euch etwas anderes erzählen. Es wird nicht mehr lange dauern, dann wird hier die Hölle los sein. Glaub mir.«

      Jetzt wurde es Albert zu bunt.

      »Unsere Soldaten werden die schon aufhalten«, keifte er.

      »1,5 Millionen Russen? Schabber nuscht so kariert, Jungchen! 1,5 Millionen, die kann man nicht mal eben so aufhalten!«

      »Aber es werden doch jetzt auch überall Gräben ausgehoben«, meinte Albert fast verlegen.

      »Willst du diese roten Teufel vielleicht mit der Schaufel aufhalten? Etwa mit Schipp-schipp-hurra? Glaub mir, ihr werdet alle noch einmal nach eurer Mutter schreien!«

      Der Alte lachte laut und hämisch.

      »Glaub mir, Jungchen, die hält niemand auf! Seht zu, dass ihr fortkommt. Noch ist Zeit. Weggehen ist besser als Schipp-schipp-hurra …«

      Der Alte lachte immer noch, brachte das Pferd wieder auf Trab und zog auf der Landstraße weiter in Richtung Heilsberg. »Schipp-schipp-hurra … Schipp-schipp-hurra …«, hörte Albert ihn noch in der Ferne rufen, und er sah, wie sich das merkwürdige Gespann langsam über den Hügel entfernte.

      Was erzählte der für einen Humbug? Die Schutzwälle würden die Russen mit ihren Panzern schon stoppen. Und außerdem: Wer dachte jetzt ans Graben. Schlittschuhe wollte er laufen. Schnell nahm Albert wieder an Fahrt auf. Und dann hatte er den See endlich erreicht.

      Für ihn war es so, als ob er in ein römisches Amphitheater einmarschieren würde. Er war der Gladiator, da draußen warteten die Bestien, und die Menge, sie applaudierte ihm. Die Welt, sie reduzierte sich für Albert in diesem Augenblick auf diese paar Quadratkilometer Eis. Hier war der Nabel der Welt – zumindest für einen Jungen aus Klotainen. Ein winziger Punkt, der über das Eis sauste und der der Schwerkraft scheinbar entfloh. Stunden konnte er so über das Eis gleiten. Zeit, sie spielte keine Rolle. Oder doch?

      Verdammt, der alte Mann mit dem Gespann hatte ihn lange aufgehalten! Und auf dem Eis war er auch schon eine ganze Weile unterwegs gewesen. Mutter konnte schon wieder von der Küchenarbeit

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