Katzenschwund. Reinhard Kessler

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Katzenschwund - Reinhard Kessler

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      “Ach, du wieder …“

      “Nein, sowas muss man ernst nehmen. Vielleicht unterschätzen wir alle diese putzigen kleinen Nager“, antwortete er mit breitem Grinsen.

      “Wir sollten uns vielleicht auch rechtzeitig einen Hamster kaufen. Oder der Zivilschutz sollte das wenigstens tun.“

      Der Kommissar war in der Nachbarschaft als zuverlässig, aber auch als manchmal merkwürdig bekannt.

      Schon kurz nachdem sie in diese Wohnung in Liestal eingezogen waren, regte sich Misstrauen.

      Die Ursache dafür war er selber. Er hatte die Angewohnheit, jedesmal wenn er den grossen 110 Liter Abfallsack** vor die Tür stellte, laut zu sagen: “Giovanni, man stellt sich nicht gegen die Familie …“, und er trug den Abfallsack immer über der Schulter raus.

      Das wurde natürlich von der Umgebung wahrgenommen und selbstverständlich weiter verbreitet und heftig diskutiert.

      Bei dem ortsüblichen Humor war eine harmlose Erklärung für sowas ausgeschlossen.

      Es wurde gemunkelt. Er wurde solange mit Argwohn beäugt bis die Mitbewohner erfuhren, was sein Beruf war. Vielleicht hatte man auch mal seinen Abfallsack durchsucht.

      An seiner Sprache bemerkten sie, dass er irgendwie deutsche Wurzeln haben müsse und fragten ihn auch gelegentlich, wie es ihm denn in der Schweiz gefalle.

      Je nach fragender Person gab er denn auch schon mal verschiedene Antworten. War die Person eine Frau und höflich, so antwortete er: “Sehr gut, sehr gut.

      Hier ist alles ein bisschen menschlicher und gemütlicher. Zum Beispiel, wenn ich hier einen Brief wegschicke und ich habe zuwenig Briefmarken draufgeklebt, dann wird er trotzdem befördert. Ich habe dann zwar einen Tag später einen Zettel von der Post im Briefkasten, dass ich noch sagen wir mal 50 Rappen nachzahlen soll. Aber der Brief wird befördert. In Deutschland kommt der Brief mit bissigem Kommentar einfach wieder zurück.“

      Er konnte es natürlich auch nicht unterlassen darauf hinzuweisen, dass man wohl bei Unterfrankierung nachzahlen müsse, allerdings bei Überfrankierung niemals Geld zurück bekäme. Da müsste die Post noch dran arbeiten.

      Sein Gerechtigkeitsempfinden war eben hoch entwickelt.

      Daraus entstanden manchmal interessante Gespräche derart, dass man bei zu schnellem Fahren mit dem Auto wohl eine Busse von 100 Franken zahlen darf, er aber noch niemals erlebt hat, dass man bei entsprechender langsamerer Fahrweise mal als Belohnung 100 Franken zurück bekäme.

      Er führte das auf eine latent vorhandene landesübliche Geldgier zurück.

      War der Fragende aber ein etwas dünkelhafter Schweizer, dann lautete seine Antwort etwa so: “Ach, mir gefällt es gut. Wir haben schon so viel erreicht seit ich als Entwicklungshelfer hergekommen bin. Mich stört halt nur, dass die Kinder hinter dem Auto herrennen und um Süssigkeiten betteln, wenn ich durch ein Dorf fahre.“

      Das stimmte zwar nicht, aber die Antwort erfüllte ihren Zweck. Er wurde spätestens ab dann von diesen Menschen nicht mehr belästigt.

      Sein Verhältnis zur Schweiz war zusammengefasst insgesamt positiv mit geringen Abstrichen. Er hätte also eigentlich auch Schweizer sein können, war er ja auch irgendwie, so doppelbürgermässig jedenfalls.

      In Schulnoten ausgedrückt war sein Befinden so bei 2-, wobei 2- eine deutsche 2- war, in schweizer Schulnoten ausgedrückt wäre das eine -5 (ausgesprochen “bis fünf”). Diese umgekehrte Zählweise bei den Schulnoten nannte er umgekehrte polnische Notation**, was natürlich nicht korrekt war. Aber das kannte er von seinem alten Taschenrechner, also von seinem sehr alten Taschenrechner, also eigentlich noch älter, kurz nach dem Abakus.

      Auf jeden Fall führte dieses Benotungssystem dazu, dass seine deutschen Besucher permanent Schüler in ihrem Leistungsvermögen falsch einschätzten.

      Da konnte es dann schon mal passieren, dass sie seinem Sohn für schlechte Leistungen kleine Belohnungen zukommen liessen und ihn ausgiebig lobten.

      Der hielt natürlich den Mund und brachte die Beute schnell in sein Zimmer in Sicherheit.

      Die Tochter mit den sehr guten Noten erhielt dagegen den dringenden Rat, sich mal auf den Hosenboden zu setzen und zu lernen. ‘Es soll ja mal was aus dir werden, Mädchen‘.

      Wenn der Besuch dann weg war, sorgte der Vater aber wieder für Gerechtigkeit, er hatte ja wie gesagt ein hohes Gerechtigkeitsempfinden.

      Das war aber oft genug nur noch teilweise möglich, denn der Sohn hatte seine Belohnung in weiser Voraussicht meistens schon aufgegessen.

      Das zog dann jeweils die Rache der Tochter nach sich und der Familienfriede war extrem gefährdet.

      Die Tochter hatte sowieso einen geheimen Groll gegen den jüngeren Bruder. Sie konnte einfach nicht verstehen, wieso ihr Buder vor ihr im Jahr Geburtstag hatte, obwohl er doch nach ihr geboren war. Das empfand sie als hochgradig ungerecht. Sie als Ältere müsste ja wohl gefälligst als erste im Jahr mit den Geschenken an die Reihe kommen.

      Das hatte sich erst im schulpflichtigen Alter langsam gelegt, war aber im Unterbewussten latent immer auch im Erwachsenenalter noch als Teil ihrer bitteren Kindheit vorhanden. Solchermassen misshandelte Kinder verzeihen zwar, aber vergessen nie. Dafür sorgt schon die Tatsache, das diese Geschichte bei jedem Familientreffen wieder aufgewärmt wird.

      Inzwischen kannten ihn alle Nachbarn und er auch sie. Dass sie beim Grüssen immer den Namen mit erwähnten (‘Grüezzi, Herr Jelato‘), war ihm am Anfang peinlich, da er ihre Namen noch nicht so aus seinem Speicher abrufen konnte. Aber jetzt funktionierte das, die Namen waren im Langzeitgedächtnis abgelegt und wären eventuell sogar in hohem Alter noch präsent. Man wird sehen.

      Er und seine Frau waren ruhige Mitbewohner, besonders seit die Kinder aus dem Haus waren. Dass ab und zu ein Polizeiauto vor der Tür stand, war für alle gewöhnungsbedürftig.

      Am Anfang fragten sie sich, was wohl Schlimmes passiert wäre und der Abfallsack Giovanni kam ihnen wieder in den Sinn.

      Später dachten sie vor allem an den Langhaarigen im dritten Stock. Dem trauten sie einiges zu. Jemand meinte, dass wäre bestimmt der neue Wirt vom Fixerstübchen. Und seine Freundin hatte eine Tätowierung, man stelle sich vor!

      Da sie in der Zeitung von verschwundenen Katzen im Oberbaselbiet gelesen hatten und sie natürlich keine Vorurteile hatten, nannten sie ihn heimlich Katzenesser**. Aber auch Menschenhandel oder mindestens Drogenschmuggel oder Ähnliches schien ihnen sehr wahrscheinlich.

      Sie hatten auch scharfsinnigerweise bemerkt, dass dort im dritten Stock nur geduscht wurde, wenn jemand gerade im vierten Stock auch duschte.

      Als sie den Langhaarigen mal ganz vorsichtig darauf ansprachen, meinte dieser, dass er dadurch Strom spart. Schliesslich sei dann die Warmwasserleitung aus dem Keller bis zu ihm in den dritten Stock schon mit warmem Wasser gefüllt und er könne so helfen, Energie und Geld zu sparen. Ausserdem sei der sparsame Umgang mit Energie ein edles Ziel und würde gefördert.

      Sie waren überrascht, dass ein potenzieller Drogenschmuggler zu solchen Gedanken fähig war.

      Er war aber noch zu ganz

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