Mai-Schnee. Gertrud Wollschläger

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Mai-Schnee - Gertrud Wollschläger

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sei Dank. Nur dadurch können sie eine solche Größe und die süßesten Aromen erlangen. Das wussten unsere Eltern und Großeltern schon. Sie und später wir pflückten oder holten beim Bauern mit Freuden jedes Jahr Kirschen. So viel wir wollten.

      Ich hätte gerne geschrieben: Bis heute! Aber das stimmt nicht. Eines Tages änderte sich für uns mit einem Schlag alles. Freude am Kirschenholen gab es nicht mehr. Ängste machten sich in unseren Familien breit. Es war Schreckliches geschehen! Ein junges Mädchen vom Berg war getötet worden. Feige ermordet. Die Gegend hatte ihren Glanz verloren.

      In diesem Jahr machte ich mich wieder auf den Weg dorthin. Nach so langer Zeit. Nach über vierzig Jahren! Es musste einfach sein!

      Ich habe Menschen kennen gelernt, die mir dabei halfen, den gefürchteten einsamen Weg durch den Wald wieder zu gehen, Menschen, die mich begleiteten und viel erzählten, was sich aus der Vergangenheit in ihre Gedanken eingemeißelt hatte. Sie haben nichts vergessen. Alles war da, ganz nah, war mit ihnen gegangen, bis heute. Als ich aus dem Wald trat, war die Landschaft immer noch schön, wunderschön.

      Den Mai-Schnee gab es in diesem Jahr wie immer. Die Kirschen reiften heran, üppig wie immer. Wir machten unsere Körbe voll, wie immer.

      Irgendwann beim Pflücken kam dieses Kinderlied in meine Gedanken. Machte sich fest wie ein Ohrwurm:

      Rote Kirschen ess ich gern,

       schwarze noch viel lieber,

       in die Schule geh ich gern

       alle Tage wie…

      Ich konnte die letzte Zeile nicht zu Ende singen. Das ‚wie…‘ blieb mir im Hals stecken. Das Kind kam ja nicht wieder. Es kam niemals wieder.

       MAI-SCHNEE

      In jenem Frühjahr war das Wetter so, wie man es in Bilderbüchern nachlesen kann. Wenn Kindern beschrieben wird, wie perfekte Jahreszeiten auszusehen haben.

      Der Winter war pünktlich vorbei und die ersten warmen Tage verwöhnten das Land. Es war Mitte Mai. Der Mai-Schnee wurde in den nächsten Tagen erwartet. Alles sprach dafür, dass es eine gute Kirschenernte geben würde. Die ganze Hochebene war ein einziges Blütenmeer. Mit riesigen Zuckerwattehauben hatte sich jeder Baum geschmückt. So war das immer, wenn der Winter gnädig gewesen war. Wenn der Ostwind über den Nordwind bei seinen winterlichen Kraftspielen gesiegt hatte.

      Die erste Heuernte des Jahres stand vor der Tür. Wiesenblumen und Kräuter blühten in allen Farben in verschwenderischer Fülle. Jetzt, am Vortag zu Fronleichnam, kam das herrliche Wetter gerade recht, brauchte man doch Blütenköpfe in riesigen Mengen. In der kommenden Nacht mussten Blumenteppiche gelegt werden. Prachtvolle, bunte Bilder wollten sie wieder erschaffen für die vorgesehenen Stationen der Prozession. Das war Ehrensache!

      Nirgendwo sonst gab es eine solche Fülle und Auswahl, wie man sie hier oben auf den Wiesen rund um Muri pflücken konnte. Schon in den frühen Mittagsstunden waren Gruppen von Frauen auf den Berg gegangen und kniffen seitdem die Blüten von den Stängeln. Eine mühsame Arbeit, aber mit Schwatzen und Lachen verging die Zeit wie im Flug und die Körbe füllten sich.

      Später wurden die Frauen gefragt: „Habt ihr denn nichts gehört? Ihr wart doch gar nicht so weit weg vom Tatort.“ „Nein, nichts!“ Niemand hatte etwas Außergewöhnliches gehört oder gesehen.

      Ratlos horchten die Befragten in sich hinein. Sollte denn alles lautlos geschehen sein? Unvorstellbar! „Irgendwann haben wir zwar Edelgard nach der Sonja rufen hören, uns aber nichts dabei gedacht. Erst als sie aufgeregt zu uns kam und nach der Tochter fragte, machten wir uns Gedanken, wo das Mädle geblieben sein könnte.“ „Sicher hat die sich verschwätzt und wird schon heimkommen. Wo soll sie denn sonst sein?“, meinte die eine. Da war es später Nachmittag. „Wir hatten die Körbe voll und machten uns auf den Heimweg. Wir dachten uns nichts Schlimmes, bis die Sirenen heulten. Um 17 Uhr war das. Da ahnten wir, es muss was passiert sein“, erzählte eine andere.

      Oma hatte den Tisch gedeckt wie jeden Tag. Eine große Familie war zu versorgen. Wenn alle zu Hause waren, acht Personen. Da musste was auf dem Tisch stehen.

      Doch heute war es anders. Sonja war es, die fehlte.

      Ihr Teller blieb unbenutzt. Alle anderen hatten längst gegessen und gingen wieder ihren Beschäftigungen nach. Nur der eine Teller wartete wie eine Anklage gegen einen unpünktlichen Menschen. Die zornigen Blicke der Großmutter streiften das Geschirr immer wieder. „Wo bleibt des Mensch bloß? Die isch doch bestimmt zur Tante in der Stadt. Hat mit Fleiß den Bus vertrödelt, weil sie heut Nachmittag net daheim schaffen will. Kartoffeln wäret zu hacken. Das hätt sie wahrhaftig eine Weile machen können. Der Mutter helfen, der es seit Wochen nicht so gut geht. Klar! Dort bei den feinen Verwandten isch es bequemer als wie hier der Mutter die eine oder andere Arbeit abnehmen. Und ich kann net abräumen, werd heute überhaupt net mehr fertig. Die Linsen werden fest, die Spätzle kalt und die Saitenwürstle sind aufgeplatzt. Die soll bloß kommen, so geht’s net! “

      Inzwischen war Oma Mechthild richtig wütend geworden. „Edelgard, willsch du net nachgucken, wo sie bleibt? Du hasch doch den Traktor, fahr die Strecke ab! Wer weiß, wo sie sich rumtreibt“, drängt die Oma.

      „Also bei der Tante isch sie net, ich hab dort scho ang’rufen. Jetzt will ich noch schnell dem Roland telefonieren. Der weiß ja, ob sie mit ihm im Bus heim’kommen isch oder net.“ „Haja, mach des no gschwind, mir langt’s jetzt“, maulte Oma Mechthild mit Nachdruck hinterher.

      Unruhe ist in Edelgard. Sie spürt einen Kloß im Hals. Der war plötzlich da. Es gelingt ihr einfach nicht, den runterzuschlucken. Komisch ist das! Das leichte Zittern ihrer Hände fällt ihr auf, als sie das gelbe, abgegriffene Telefonbuch aus der Schublade nimmt und die Nummer von Herbert Heckner, dem Vater von Roland, heraussucht. Schulkamerad Roland ist am Telefon. „Hasch du die Sonja g’sehen, war sie mit dir im Bus? Sie isch noch net daheim.“ Sie merkt, dass ihre Stimme außer Atem klingt, ärgert sich selber über ihre Aufregung und kann doch nicht dagegen an. „Ha, doch“, sagt der Roland, „mir beide send mit dem Bus heim, wie immer. Sie isch ausg’schtiegen und hat noch mit ihrer Freundin, der Cordula gschwätzt. Dann hab ich noch g’sehen, wie die Sonja den Berg in Richtung heim gegangen isch.“

      Ratlos hält Edelgard noch eine Weile den Hörer in der Hand und starrt die Sprechmuschel an, als könnte sie von dort eine Antwort bekommen. Unmerklich schüttelt sie den Kopf und legt langsam den Hörer auf die Gabel. Irgendwie ist es so unwirklich für sie, dass Sonja ohne Bescheid zu sagen nicht nach Hause gekommen ist. „Jetzt geh halt, Edelgard, und guck nach dem Mädle! S’ könnt ja au was passiert sei.“ Sorge schwingt in der Stimme der Älteren mit. Die Hände, die sie in den Taschen der bunten Kittelschürze vergraben hat, ballen sich zu Fäusten. „Ich will keine Aufregung mehr. Mir langt des schon, was ich jeden Tag sonst in der großen Familie erleben muss.“

      Das Telefon klingelt. Edelgard reißt fast den Hörer von der Gabel. Bestimmt was wegen Sonja! Nein, nicht. Eine Nachbarin will eine Kaffee-Sammelbestellung machen. „Jetzt net. Denk mal, d’ Sonja ist noch net von der Schul daheim, ich muss los, nach ihr suchen.“ Sie schmeißt den Hörer auf die Gabel, rennt durch den Gang in den Hof. Dort steht der große Traktor noch so, wie sie ihn abgestellt hat, als sie vom Kartoffelacker nach Hause gekommen ist. Viel zu laut und viel zu schnell rattert sie vom Hof, die Dorfstraße entlang. Am Waldrand, auf einem kleinen Wiesendreieck, genau da, wo Fußweg und Teerstraße zusammentreffen, bleibt Edelgard stehen. Motor aus! Sie horcht, hält die Luft an. Stille! Dann fängt sie an zu rufen, zu schreien: „Sonja, Sonjaa!“ Sie legt die Hände als Trichter an den Mund:

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