Mai-Schnee. Gertrud Wollschläger

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Mai-Schnee - Gertrud Wollschläger

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sei Dank, sie sind zu Hause! Es gibt an diesem späten Nachmittag und Abend wohl kein Haus in der Gemeinde, wo nicht diskutiert und gemutmaßt wird, was mit Sonja passiert sein könnte. Irgendwie schmeckt heute das Vesper nicht so wie sonst. Manch einer schiebt es schneller von sich, als er es eigentlich vorhatte.

      Auch auf dem Berg hören die Bewohner das Dröhnen und Heulen der Sirenen. Als Echo klingen die Töne aus verschiedenen Ecken zurück und hinterlassen den Eindruck eines Infernos. Edelgard und ihre Mutter fahren so erschrocken zusammen, als hätten sie einen Schlag mit einer Keule bekommen.

      „Die Sirenen! Die Sirenen müsste Arthur hören“, fährt es Edelgard durch den Kopf. „Er muss sich doch denken, dass im Ort was g’schehen ist. Fünfe ist es auch. Eigentlich Zeit für ihn zum Heimkommen“, überlegt sie. „Oh Herrgott“, fleht Edelgard, „lass den Arthur heimkommen!“ Jetzt wissen es alle, es ist sozusagen amtlich. „Mit unserem Mädle ist was passiert!“ Wenn doch wenigstens der Vater da wäre, aber der ist am Morgen früh weg, musste nach München, Kunden besuchen.

      Beide Frauen hält es nicht mehr im Haus. Sie rennen in den Hof, der an die Dorfstraße grenzt. Ihre Nachbarn sind da, sie stehen in kleinen Gruppen beieinander und diskutieren. Nicht zu laut, denn man weiß ja nichts Genaues. „Die wird man schon finden, Edelgard, mach dir net so viel Sorgen! Jetzt gucket ja ganz viele nach ihr. Man hat sie doch noch gesehen nach der Schule, also muss sie hier au wo sei. Geh nur rein zu deine andere Kinder! Mir gehen jetzt au zum Wald und helfet suchen. Mir saget dir gleich Bescheid, wenn mir was Neues erfahret.“

      Kein bisschen getröstet geht Edelgard ins Haus. Es stimmt ja, sie muss nach ihren drei Jungs sehen. Die Buben haben sich so erschrocken, als die Sirenen heulten, und sind ins Haus gerannt. Dort hocken sie eingeschüchtert mit großen Augen in der Küche.

      Schweigend haben sie heute ihre Hausaufgaben gemacht und danach schweigend die kleinen Spielautos auf dem Tisch herumgeschoben. Ihre Brummlaute, mit denen sonst die Fahrzeuge in allen Lautstärken begleitet wurden, kommen ihnen nur leise über die Lippen. Die Mutter hatte ihnen vorhin kurz gesagt: „D’ Sonja isch no net von der Schul daheim und jetzt suchen alle nach ihr.“ „Warum redet die Mutter nur so komisch?“ Eine ganz neue Stimme hatte sie. „Des war doch net so schlimm, wenn die Sonja mal später heimkam.“ Erst als sie begriffen, dass die Sirenen ihrer Schwester galten, erstarrten ihre Kinderseelen vor Angst und Schrecken. Sie trauten sich nicht, Fragen zu stellen, denn jeder Versuch wurde von der Oma mit harschen Worten abgetan. „Still jetzt, mir wollet jetzt nix mehr hören, setzt euch hin und haltet den Mund!“

      „Fangt ganz unten am Fluss an zu suchen! Teilt euch auf!“, rief der Kommandant.

      „Immer Zehner-Reihen, fünf alte und fünf junge Leut. So schaffen wir uns den Berg hoch. Auf der Teerstraße nach oben stehen Autos. Wenn jemand was sieht oder findet, gibt er Signal. Einen überlangen Hupton! Die Fahrzeuge sind offen, Zündungen sind an. Also los, guckt genau, ob ihr vielleicht Gegenstände findet oder ob es Spuren gibt, die nicht hingehören! Alles, auch die kleinste Kleinigkeit ist wichtig!“ Mit energischen Befehlen wurden die Suchtrupps eingeteilt und losgeschickt.

      Gerade biegt Arthur auf die Straße nach Muri ein, als er den ersten Leuten von der hiesigen Feuerwehr begegnet. Hält und sieht sich neugierig um. „Was ist passiert, Willi? Wo brennt’s?“, fragt er den ersten, der ihm gerade über den Weg läuft. „Gut, dass du da bist, Arthur“, kommt es ernst von dem Feuerwehrmann zurück. „Es geht um eure Sonja. Die ist nach der Schule nicht nach Hause gekommen. Wir fangen gerade an zu suchen.“

      Mit einem Satz springt Arthur vom Traktor. Das ist etwas, was er im Moment zwar hört, aber überhaupt nicht einordnen kann. Das ist fremd. Automatisch gehen seine Gedanken sofort zu den Frauen daheim. „Wie mag es ihnen gehen?“ Er ahnt, dass er zuhause dringend gebraucht würde. Trotzdem bestimmt er kurz: „Ich suche mit!“ Das ist ihm im Augenblick näher und wichtiger. „Ja, mach das. Komm mit mir und meinem Trupp. Wir fangen mit dem unteren Teil der Strecke vom Fluss aus an.“

      Inzwischen lag eine ungeheure Spannung über den Suchenden. Jeder von ihnen fürchtete mittlerweile, er könnte etwas finden, was er sich nicht wünschte. Es war ein Junge der Jungfeuerwehr, der sie fand. Der rief und schrie: „Hilfe, hier! Hil.....“ Das letzte ‚Hilfe‘ blieb ihm buchstäblich im Hals stecken. Der Magen würgte ihm entgegen. Er brach sich die Seele aus dem Leib, der Junge. Einer hupte. Lange Pause, noch mal lange. Ein Klagen, das jeden, der den Ton hören musste, erschauern ließ.

      Ein Beben erfasst den abendlichen Wald. Alles rennt. „Der Ton kommt doch vom Berg!“ Sie keuchen den Berg hoch. Von allen Seiten kommen sie zum Hupton. „Da, da unten!“, schreit es ihnen entgegen. „Ein kleines Stück unterhalb der Teerstraße, da liegt sie.“

      Wer mitgesucht hat oder zufällig vorbeikommt, sieht sich den Fundort an, zertrampelt Spuren, die im Nachhinein so wichtig gewesen wären. Das Entsetzen über den Anblick der Leiche, das Blutbad, das sie ertragen müssen, lässt die Männer verstummen oder aufstöhnen wie im tiefsten Schmerz, lässt sie in die Büsche taumeln, wo sie sich erbrechen, lässt sie weinen und beten.

      Ein Kripobeamter sagt Jahrzehnte später: „Ich war wie gelähmt von dem, was ich da sehen musste. Es überstieg meine Vorstellungskraft. Nur weg von diesem grauenhaften Anblick! Nur einen Augenblick umdrehen und Welt sehen, die noch so war wie immer! Ich rannte zwischen die Tannen, konnte es nicht mehr ertragen, wie Tod aussehen konnte. Ich lehnte mich an einen Baum, brauchte Hilfe, konnte nur noch beten. Und ich betete: Lieber Gott, lass uns den Täter finden! Hilf uns, den Täter zu finden, hilf uns! Sonst möchte ich nie mehr was von dir!“

       (aus Befragung Kommissar I. im August 2014)

       HAUSSCHATTEN

      Er wusste, dass er zu Hause nichts sagen oder fragen durfte wegen seiner Ängste, die ihn seit dem Tod seiner großen Schwester verfolgten. Wie oft schon hatte er versucht, bei der Mutter Antworten auf sein Warum zu bekommen. „Jetzt nicht“, sagte die dann oft mit schmerzlich verzogenem Gesicht. Und beim Vater ging gar nichts. Der wurde sofort grob: „Hast du nichts anderes zu tun, als wie dumme Fragen stellen? Mach deine Arbeit und lass mir meine Ruhe.“

      Dabei hätte er doch so viele Fragen an die Eltern gehabt, also solche wie „Wer passt jetzt eigentlich auf uns drei auf, den Hannes, den Ludwig und mich? Das ist doch gefährlich, wenn wir kehren müssen hinter der Scheune etwa, wo uns keiner sieht. Da kann sich doch leicht einer anschleichen.“ oder „Wie hat der das gemacht mit der Sonja, wie kriegt der die tot? Warum hat sie denn nicht um Hilfe geschrien?“ Er, Jürgen, wusste doch ganz genau, wie stark seine Schwester war. Keine Chance hatte er gegen sie, wenn die mal richtig hinlangte. Schließlich gab er es auf, quälte sich durch den Tag und fürchtete die Nacht, alleine in der Dunkelheit seines Zimmers.

      Es kostete den Jungen jeden Tag eine große Überwindung, in den dunklen Hausgang zu gehen. Schon wenn er die Tür aufmachte, hielt er den Atem an. Er wollte ihn nicht riechen, diesen Geruch nach Finsternis, feuchter Kühle und der unbeschreiblichen Mischung aus dem Unheimlichen, das ihn aus jeder dunklen Ecke ansprang. Jürgen ließ die schwere Eingangstür aus Holz, die immer so seltsame Geräusche von sich gab, hinter sich offen, als könnte er vom Sonnenlicht und der sommerlichen Wärme etwas ins Haus mitnehmen.

      Er hatte auch festgestellt, dass die Treppenstufen, die nach oben in die Wohnung führten, weniger laut knarrten, wenn er schnell über sie tappte. Langsam und leise schleichen ging gar nicht. Er konnte den Flur nicht schnell genug hinter sich lassen. Es gab Tage, an denen er fest davon überzeugt war, in der Dunkelheit unter der Treppe sitze einer. Jürgen

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