Mai-Schnee. Gertrud Wollschläger

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Mai-Schnee - Gertrud Wollschläger

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      Dann meldete sich das Angstgespenst in seiner Brust und umklammerte ihn ganz stark, so dass er fast keine Luft mehr bekam. Irgendwie schaffte er es aber immer wieder, während kaltes Grausen über seinen Rücken lief. Hoch und runter lief es, immer abwechselnd, runter und hoch, hin und her. Das rollte und rollte wie ein Wellholz auf dem Nudelteig, von einer Richtung in die andere. Froh war er, wenn er sich in die hell erleuchtete Küche retten konnte und dem Vater vor lauter Erleichterung mit weit aufgerissenen Augen, viel zu laut, die Flasche ungestüm auf den Tisch stellte.

      „Spinnst du, was rennst denn so? Im a Weile lässt du noch die Flasche fallen, dann haben wir die Sauerei.“ Die Mutter hob dann nur den Kopf und sah ihrem Sohn still ins Gesicht mit einem fernen Blick, den Jürgen von ihr nicht kannte. Dieses Schauen der Mutter war fremd und neu. Er spürte, dass sie weit weg war von ihnen.

      Er hatte auch bemerkt, dass der Vater nicht mehr mit der Mutter zurechtkam. Der war jetzt noch öfter unterwegs als früher. Es vermisste ihn auch keiner. Im Gegenteil. Es war ein ruhigeres Arbeiten und Leben auf dem Hof.

      Der Kurtle hatte sicher Recht. Der sagte nämlich in der großen Pause zu ihm: „Du wirst schon sehen, bestimmt müsst ihr jetzt alle sterben. Du als nächster, weil du gleich nach deiner Schwester kommst. Solche machen das immer so, dem Alter nach, weißt, halt nacheinander.“ Im Kreis standen sie beisammen auf dem Schulhof und verdrückten, zwischen den ziemlich präzisen Mordvoraussagen, hungrig ihre Vesperbrote. Die anderen nickten arg mit dem Kopf, als wüssten sie alle genau Bescheid, was mit ihm und seinen Geschwistern in der nächsten Zeit passieren würde.

      Eigentlich ging es ihm gar nicht so schlecht, denn seit Tagen schon, um genau zu sein, seit dem Tod seiner Schwester, war er der Gefragteste unter seinen Mitschülern. Jeder wollte plötzlich sein Freund sein, tat sich wichtig mit ihm. Aber heute, als er diese ungeheuerliche Neuigkeit hörte, wäre es ihm lieber gewesen, er hätte wohin verschlupfen können, wo ihn kein Mensch auf der Welt mehr finden konnte.

      Er dachte an seine zwei Brüder. Vielleicht war ja einer von denen der nächste und nicht gerade er. Er würde heute Abend auf jeden Fall intensiv um eine gute Lösung beten. „Das hilft“, hatte die Mutter früher immer gesagt, wenn in der Familie irgendwas Schlimmes passiert war und es einfach nicht weiterging. Er wusste bloß noch nicht, wen er von den Brüdern opfern sollte. Den Hannes oder den Ludwig? Über die hatte er schon das Sagen und konnte oft bestimmen, wo es lang ging. Wobei ihn der Ludwig mehr ärgerte und verpetzte. Wegen dem hatte er schon mehr Hausarreste aushalten müssen, als wie er Vierer in Klassenarbeiten geschrieben hatte. Aber dafür konnte der gut Fußball spielen und das würde ihm, Jürgen, bestimmt fehlen. Also der Hannes! Aber auch das hätte Auswirkungen auf sein Leben und zwar schlechte. Der Hannes war noch klein, gerade mal sechs Jahre alt, aber dem konnte er schon so manche Arbeit auf dem Hof und im Stall aufs Auge drücken, wenn er selbst keine Lust dazu hatte. Wenn man dem noch versprach: „Du darfst am Sonntag mit in die Hütte“, dann machte Hannes ohne Murren alles für einen. Ihre Hütte im Wald war nämlich ein sicherer Ort, wo man alles tun konnte und wo die Erwachsenen einen nicht störten.

      In solch anstrengende Gedanken versunken ging Jürgen die Dorfstraße entlang. Schwüle Mittagshitze lag wie eine zu heiße Glocke über dem Tal. Die Sommersonne brannte in seinen Nacken, der in diesem Jahr schon tiefbraun war. Wer ihn kannte und so gehen sah, merkte sehr schnell, dass mit dem Jürgen heute was nicht stimmte. Kein bisschen Kinderfröhlichkeit war zu spüren. Ein erfrorenes Gesicht und entsetzte Augen waren es, die dem Betrachter entgegenblickten. Aber wer sah das schon? Eigentlich keiner. Und wer hinsah, schaute schnell wieder weg, um nicht Antworten geben zu müssen. Sie waren nicht leicht, diese Antworten. Fanden die Erwachsenen doch selber keine auf all die drängenden Fragen. Eigentlich machte sich niemand viele Gedanken über die Gefühle der Geschwister. Überhaupt war der Kerle doch schon groß, überragte seine Mitschüler um einiges. Für seine neun Jahre sah er älter aus, als er tatsächlich war. Glaubte man deshalb: „Der wird schon damit fertig werden?“

      Jürgen legte einen Zahn zu. Er durfte nicht trödeln, sonst fuhr ihm der Bus vor der Nase weg. Er musste rechtzeitig an der Haltestelle sein. Keinesfalls wollte er alleine den schrecklichen, einsamen Waldweg auf den Berg nach Hause gehen, wo doch hinter jedem Baum der Eine stehen konnte mit einem Messer in der Hand. Bei dem Gedanken liefen seine Beine von ganz alleine schneller. Er fühlte sein Herz kräftig an seine Rippen klopfen.

      Heute Mittag war er der erste am Bus. Der stand schon da. Penibel genau geparkt neben der vorgeschriebenen weißen Linie. Sein Motor brummte beruhigend leise vor sich hin. Herr Schaible, der Busfahrer, saß gemütlich auf dem Trittbrett an der Fahrerseite und zog an seiner Zigarette. „Du bist ja heute so früh, sogar der erste und ganz verschwitzt bist du. Bist du so schnell gelaufen? Ja, ja, es ist aber auch heiß heut. Sitz nur rein, wenn du möchtest.“

      Der Herr Schaible sah Jürgen mitleidig an. Er dachte an die Geschehnisse und fand, dass es eine echte Heimsuchung war, was dieser Familie geschehen war. Der Fahrer stand auf, schaute auf den Jungen hinunter und fuhr ihm kurz mit der Hand durch das dunkle Haar. „Du bist schon ein armes Büble, was du alles miterleben musst.“ Die mitleidigen Worte kamen wie Peitschenhiebe bei Jürgen an. „Der Herr Schaible weiß sicher auch Bescheid, dass ich der Nächste sein werd.“ Er zog den Kopf weg, machte, dass er in den Bus kam und ließ sich auf seinen Sitz fallen. Warm war es im Bus. Jürgen war froh, dass noch keiner der Freunde da war. Er hatte so viel zu denken. Der Schulranzen, der sonst als erstes unter den Sitz flog, blieb auf dem Rücken. Er hatte ihn vergessen.

      Jeder hatte seinen Platz im Bus. Wehe, einer setzte sich falsch hin, dann war der Streit vorprogrammiert und der Busfahrer musste streng durchgreifen. Dieser Bus war neu. Seit dem Tod seiner Schwester wurde er eingesetzt. Kein Kind sollte mehr nach Schulschluss alleine durch den Wald nach Hause gehen müssen.

      Die Anspannung nahm dem Bub die Luft. Er weinte. Merkte nicht, wie seine Schultern zuckten. Es war ein trockenes Schluchzen und Schlucken, das den Körper erschütterte. Jürgen presste sein Gesicht an die Scheibe und empfand die glatte Glasfläche wie eine wohltuende Berührung.

      Von Weitem hörte er seine Schulkameraden lärmend und durcheinanderredend die Straße entlangkommen. Sie drängten und schoben über die Treppe in den Bus, schubsten sich rauf und runter. „Da bist du ja. Warum bist du ab?“ Mit lautem Geplapper haute sich der Erwin in den Sitz neben Jürgen. „Ach lass doch den! Der wollt bloß der erste im Bus sei“, schnaubte ziemlich verächtlich der Edgar, der ihn sowieso nicht leiden konnte. „Wir waren noch am Kaugummiautomat. Der Kurtle hat Geld dabeigehabt. Zwei Mark. Wir haben alles verputzt. Guck, was wir rausgeholt haben! Eine Pfeife und einen Ring.“ „Und der Ewald hat am Schluss noch den Schlitz vom Kasten mit einem Kaugummi zugeklebt. Da kommt nix mehr raus. Die werden sich wundern!“

      „Komm Jürgen, ruck mal auf die Seite, des isch doch mein Platz auch. Mach dich net so breit, zieh deine Haxen ein!“ So ging es durcheinander, bis Herr Schaible ein Machtwort sprach. Dann war Ruhe. Jeder hatte seinen Platz eingenommen und es wurde durchgezählt. Achtundzwanzig Kinder. Es stimmte. Vom Berg waren es sieben, die anderen aus der Nachbargemeinde.

      Jürgen saß steif auf seinem Platz und hoffte, dass ihn keiner mehr ansprach. Sein einziger Gedanke war: „Hoffentlich fährt der Bus bald los. Ich muss zu meinem Onkel Arthur, der weiß bestimmt Rat.“

      Der Onkel wusste immer Rat. So manches Mal hatte er ihn schon vor dem Vater in Schutz genommen, wenn ihm, Jürgen, eine saftige Strafe drohte. Meistens wegen einer Arbeit, von der es auf dem Hof genug gab, die nicht im Sinne der Eltern erledigt worden war. Der Vater war für seine Überstrenge bekannt. Ein Glück, wenn Onkel Arthur in der Nähe war. Da genügte schon ein scharfer Blick vom Onkel hin zum Vater, dessen Wut nach kurzem, lautem Geschrei in ärgerliche Maulerei umschlug. Hochrot im Gesicht und mit geballten Fäusten drehte der Vater meist ab und ging seiner Wege. Schon immer hatte Jürgen das Gefühl, dass der Onkel der eigentliche Bauer auf dem Hof war.

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