Loverboy. Astrid Seehaus
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Auf wackeligen Beinen erreichte sie die Küchenzeile, holte eine Packung Milch aus dem Kühlschrank und griff, ohne hinzusehen, nach dem Honigglas, das in einem Regal daneben stand. Sie wusste, dass warme Milch mit Honig ihr nicht helfen würde, wieder einzuschlafen, aber es war besser, etwas zu tun, als sich untätig der Angst auszuliefern. Sie setzte den Topf mit Milch auf den Herd und achtete darauf, keine unnötigen Geräusche zu verursachen. Gedankenverloren lutschte sie den Honig vom Löffel ab und verschluckte sich. Sie rang nach Luft und sah erschrocken zur Tür. Hatte man sie gehört? Sie hoffte nicht. Sie wollte keine Erklärungen abgeben und sich dabei wieder verstellen müssen. Das war nicht ihre Art.
Aber niemand im Haus rührte sich. Heute Nacht blieb sie allein. Mit sich. Mit ihren Gedanken. Und mit ihren Sorgen.
Sie zog den Topf vom Herd, bevor die Milch aufschäumte, und goss den Inhalt in eine Tasse. Den Löffel versenkte sie in der weißen Flüssigkeit und vergaß zu trinken.
Ihre Gedanken drifteten ab in eine Zeit, in der sie jung gewesen war. Nicht naiv, wie man in dem Alter vermuten könnte, sondern mit einem starken Willen, die Zukunft selbst zu gestalten und nicht andere über das eigene Leben bestimmen zu lassen. Hätte sie damals vorhersehen müssen, dass ihre Entscheidung Jahre später solche Folgen zeitigen würde? Hätte sie anders gehandelt, wenn sie gewusst hätte, was passieren würde?
Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf. Nein. Es gab Entscheidungen, bei denen einem von Anfang an bewusst war, dass sie zu nichts Gutem führen würden, und trotzdem ließen sie sich nicht abwenden. Vermutlich war es eine Frage der Persönlichkeit, ob man jahrelang grollte oder nicht. Er jedenfalls schien nicht vergeben zu wollen. Sein Gedächtnis war das eines Elefanten. Niemals vergessend, ewig nachtragend. Dabei ging es ihm nur um sein kleinliches Rachebedürfnis, sie dagegen hatte damals ihre Unabhängigkeit bewahren wollen. Das war etwas völlig anderes.
Ohne einen Schluck getrunken zu haben, stellte sie die Tasse beiseite und wusste, was sie zu tun hatte. Auch dieses Mal würde sie sich nicht beirren lassen.
Erfurt - Sonntag - früher Abend
Als Carel die Pacat Bar betrat, geschah etwas, woran er sich im Laufe der letzten beiden Wochen erst hatte gewöhnen müssen: Er wurde aufmerksam von einem hübschen Mädchen gemustert. Das war neu für ihn und immer noch ungewohnt. Denn normalerweise pflegte ihn das weibliche Geschlecht zu übersehen. Nicht weil er hässlich war, sondern weil ihn seine Schüchternheit und sein Job gelehrt hatten, sich unsichtbar zu machen. Er lächelte dem Mädchen zu, wenn auch nur scheu. Da er der Laufbursche von Zascha war, wäre es aufgefallen, hätte er sich zu sehr um Unauffälligkeit bemüht.
Carel begrüßte den Barkeeper.
„Hi, Stan, ich hab was für dich.“ Er reichte dem schweren Mann einen geschlossenen Umschlag.
Mit einem Nicken nahm Stan die Ware entgegen und verschwand im Hinterzimmer. Carel atmete auf, als er das brisante Zeug los war, und sah sich um.
Das Pacat war nahezu leer. Er lümmelte sich auf einen Barhocker. Während er auf Stan wartete, der das Crystal prüfte, verfolgte er die Vorführung einer Poledancerin, die ihren Hintern lustlos hin und her schwenkte, beobachtete Elena in ihrem schwarzen Netzfummel, wie sie sich lustlos dem einzigen Kunden, Marke Bürohengst, näherte, der sich – wahrscheinlich lustlos – von ihr vögeln lassen würde. Eine ebensolche Lustlosigkeit schien sich auch seiner zu bemächtigen. Carel fragte sich angeödet, was er hier eigentlich tat.
Das Etablissement war Swingerclub und Puff zugleich. Die einst schwülstige Bordellatmosphäre mit dunklem Holz und roten Samtvorhängen war durch einen kühlen Marmor-Glas-Schick ersetzt worden. Carel kannte das Pacat noch nicht lange genug, um sich eine Meinung über die Änderungen in der Einrichtung oder der Kundschaft zu bilden, aber Elena hatte ihm gesagt, dass neuerdings eine andere Klientel komme. Mehr Rechtsanwälte, Versicherungsfritzen und Schickimickis als früher.
„Was macht ein attraktiver junger Mann so allein hier?“
Das Mädchen, das ihn angesprochen hatte, musste neu sein und besaß einen rumänischen Akzent. Carel bezweifelte, dass sie schon achtzehn war. Alles an ihr, der schlanke Körper und die großen, runden Augen, erinnerte ihn an ein Rehkitz.
„Möchtest du Gesellschaft?“ Die Sätze klangen einstudiert. Wahrscheinlich waren das die einzigen Brocken Deutsch, die sie beherrschte.
„Nein, danke. Ich bin geschäftlich hier“, antwortete Carel, und der Barkeeper gab dem Mädchen mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass es verschwinden solle.
Stan schob ihm einen zugeklebten Umschlag zu.
„Wo dieses Mal?“, murmelte Carel, woraufhin Stan wortlos einen Zettel auf den Tresen legte, als hätte er vergessen, wie man die Stimmbänder benutzte. Dann vertiefte er sich wieder ins Gläserpolieren, ohne seinem Gegenüber weiter Beachtung zu schenken.
Carel las die Adresse. Es war keiner der Plätze, an denen er sich für gewöhnlich mit Zascha traf. Er war schon viel mit seinem Boss herumgefahren, aber er kannte noch nicht jede Ecke von Erfurt, und diese sagte ihm gar nichts. Er zog sein Smartphone aus der Hosentasche, gab den Straßennamen ein und studierte den Weg dorthin. Von Anfang an war Carel Zaschas Hang zur Vorsicht und Geheimniskrämerei aufgefallen. Vielleicht hatte er Glück und würde heute endlich erfahren, wo Zascha wohnte.
Zascha. Für alle einfach nur Zascha. Auch für ihn. Ohne Nachnamen. Kurz und bösartig.
Der Barkeeper ließ das Papier verschwinden, kaum hatte Carel es aus den Händen gelegt. Zum Abschied nickte Carel ihm stumm zu, doch der andere reagierte nicht.
Neben dem Ausgang fiel Carel eine Werbetafel ins Auge. Die Sex-Flatrate war diese Woche schon für hundert Euro pro Nacht zu haben. Die Mädchen bekamen davon zehn Prozent und die Freier durften sie so lange in Anspruch nehmen, wie sie wollten (oder konnten, dachte er süffisant). Letzte Woche hatte der Preis noch hundertfünfzig betragen, und Elena hatte sich schon darüber ziemlich aufgeregt. Hatte sie es gewagt, sich wieder zu beschweren? Sie war die Älteste im Pacat und hatte eine Tochter, die sie aus dem Milieu raushielt. Das hatte sie ihm erzählt, obwohl sie sonst eher schweigsam war. Ihr war dabei deutlich anzumerken gewesen, dass sie diesen Job hasste. Und dabei ging es ihr noch gut, sinnierte Carel. Sie hatte weniger Grund, sich zu beschweren als die Mädchen in den Fickzellen, wie Zascha die Wohnungen nannte, in denen die Kleinen für ihn anschaffen mussten.
Carel schüttelte den Gedanken an seinen Boss ab und stieg in den gestohlenen Mercedes, den er im Hinterhof des Pacat geparkt hatte. Er folgte den Ansagen der Navigations-App seines Handys. Sie lotsten ihn zu einem Mietshaus, einem heruntergekommenen Altbau. Das schlichte Gebäude passte zwar nicht zu Zaschas theatralischem Wesen, doch zu der Vorsicht, die er stets walten ließ. Endlich seine Adresse zu kennen, war ein enormer Fortschritt. Carel triumphierte, Zascha begann, ihm zu vertrauen. Plötzlich wurde die Beifahrertür aufgerissen, und Zascha schwang sich auf den Sitz. Das ging so schnell, dass Carel ihn erst einmal verblüfft anstarrte. Zascha musste im Hauseingang auf ihn gewartet haben. Sein Vertrauen war also doch nicht so groß.
Ungeduldig fuhr Zascha Carel an: „Hast du das Geld?“
Wortlos zog Carel den Umschlag aus der Innentasche seiner Jacke und reichte ihn seinem Boss. Der befingerte den Inhalt