33 Tage. Marko Rostek
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Der deutsche Kaiser ist außer sich und notiert zügellose Randbemerkungen, ein Spiegelbild seiner Emotionen, auf dem Papier. „Mit den Serben muss aufgeräumt werden – und zwar bald! Hoffentlich hält man in Österreich diesmal durch und lässt sich nicht wieder zur Milde hinreißen!“ Nach nicht einmal der Hälfte des Berichtes legt der Mann in Uniform den Stift beiseite, nimmt das Glas Wein, das vor ihm am Schreibtisch steht, und genehmigt sich einen kräftigen Schluck. Energisch lehnt er sich im hohen Stuhl zurück und blickt zu der im Hintergrund des Arbeitszimmers befindlichen Bibliothek. „Wenn sie jetzt nicht Stärke zeigen, sind sie für uns als Bundesgenossen verloren.“ Sein Gesichtsausdruck verfinstert sich bei diesem Gedanken noch mehr.
In den letzten Jahren ist für ihn und seine Regierung immer deutlicher geworden, dass sich die angrenzenden Mächte in Ost und West gegen ihn und sein Reich zusammenschließen und Österreich als einziger und verlässlicher Bündnispartner gegen diese Einkreisung übrig bleibt. Damit sind die beiden europäischen Zentral-Monarchien auf Gedeih und Verderb aneinandergekettet. Er weiß das. Er weiß aber auch, dass man in Wien anders denkt. Wien hat keine Ambitionen als Weltmacht – so wie er, Wien hat keine Seemacht, die nach Weltgeltung giert – so wie er, Wien hat keine Kolonien, die es zu schützen und zu vergrößern gilt – so wie er. Und Wien hat kein Wirtschaftswachstum von beinahe 25 Prozent im Jahr – so wie er es hat. Nein, Österreichs außenpolitische Interessen sind gänzlich anderer Natur. Regional, kleinräumig und höchstens auf den Balkan gerichtet. Darauf ist die Wiener Diplomatie fokussiert. „Daher muss eine Provokation in dieser Interessenssphäre, wie es das Attentat auf Franz Ferdinand darstellt, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln geahndet werden, will man nicht vor der Welt sein Gesicht und seinen Ruf verlieren!“ Für ihn ist diese Schlussfolgerung sonnenklar. „Oder man wird eben als einziger Bündnispartner versagen.“
Den Preußen hält es bei diesen Gedanken nicht mehr auf dem Stuhl. Er geht energischen Schrittes zu seiner Bibliothek, wo er gerne verweilt, wenn es eine verworrene Situation zu lösen gilt. Umgeben von den Heroen der klassischen deutschen Literatur glaubt er, jene Energie zu verspüren, die für Entscheidungen von großer Tragweite unumgänglich ist. „Jetzt oder nie müssen sie Serbien in die Schranken weisen, 1912 und 1913 haben sie es ja leider verabsäumt.“ Er ist sich seiner Sache sicher und schreckt auch vor Konsequenzen nicht zurück. „Wenn Berchtold allein nicht fähig ist, diese Schritte zu gehen, müssen wir ihm den Rücken stärken. Österreich darf nicht fallen!“ Er greift in das Bücherregal und nimmt wahllos ein Werk aus dem sorgfältig sortierten Bestand. Behutsam öffnet er den Einband und blättert langsam die ersten Seiten um. Einzelne Zeilen lesend, immer wieder umblätternd, steht er eine Weile neben dem Regal und verliert sich in der Prosa des Buches. Dann umfasst er mit der rechten Hand einen dickeren Seitenstapel, bringt ihn durch ein vorsichtiges Nachhintenwölben unter Spannung und lässt die einzelnen Blätter aufschlagen. Während ein zarter Luftwirbel sein Gesicht umspielt, fällt ein zwischen den Seiten verstecktes Lesezeichen zu Boden. Der Mann hebt es auf, wirft einen Blickt darauf und steckt es so zwischen die Seiten, dass es am oberen Buchrand heraussteht. Dann stellt er den Band ebenso behutsam in die Lücke zurück, wie er ihn zuvor herausgenommen hat.
Wieder an seinen Schreibtisch zurückgekehrt, nimmt er Tschirschkys Bericht nochmals zur Hand, sucht jene Stelle im Text, an der er zuvor unterbrochen hat, und beginnt weiterzulesen. Erneut quittiert er die Zeilen des Botschafters mit heftigem Kopfschütteln. „Was geht in Tschirschky vor“, poltert es aus ihm heraus, „dass er sich in eine österreichische Angelegenheit auf diese Weise einmischt. Dazu hat ihn keiner ermächtigt! Nachher heißt es dann, wenn es schiefgeht, Deutschland hätte nicht gewollt!“ Noch im Stehen schreibt Wilhelm II. seine zornigen Bemerkungen auf und geht damit aus seinem Arbeitszimmer. Im Vorzimmer gibt er einem seiner Adjutanten den Auftrag, diesen Bericht in die Reichskanzlei zu senden, damit Bethmann Hollweg die entsprechenden Weisungen nach Wien übermittelt. Die Haltung des deutschen Botschafters Heinrich Leonhard von Tschirschky hat sich gegenüber den offiziellen Stellen in Wien schleunigst zu ändern.
FREITAG, 3. JULI
Die Menge vor der Hofburgkapelle ist nicht so groß wie vor 16 Jahren, als die über alles geliebte Kaiserin zu Grabe getragen wurde, aber es sind bedeutend mehr, als die Tageszeitungen in ihren Artikeln über die Beliebtheit des Erzherzogs zu prognostizieren verleitet waren. Viele warten schon seit den frühen Morgenstunden auf Einlass, um dem toten Thronfolgerpaar die letzte Ehre zu erweisen. Dem Anlass entsprechend ist die überwiegende Mehrheit vollständig in Schwarz gekleidet. Auch wenn viele von ihnen Erzherzog Franz Ferdinand zeit seines Lebens nicht in ihr Herz geschlossen haben, hält man es nun doch für eine ehrenvolle Pflichterfüllung, des ermordeten Thronfolgers des Hauses Österreich zu gedenken und am Sarg des Kaiser-Neffen Trauer und Bestürzung über das Attentat zu bekunden. Dass man bei habsburgischen Begräbniszeremonien immer den einen oder anderen Blick auf hochgestellte Persönlichkeiten werfen kann, die man sonst nie zu Gesicht bekommt, wird von vielen als angenehmer Nebeneffekt gesehen.
Es ist für die Tageszeit schon ungewöhnlich heiß und die Vormittagssonne brennt auf die Straßen. Menschen spannen Regenschirme auf, um sich vor den Strahlen der Sonne zu schützen. In der grau-schwarzen Masse der Wartenden ist ein ständiges Pulsieren und langsames Rotieren zu bemerken. Vordrängende wechseln sich mit Zurückweichenden und Schattensuchenden ab. Dazwischen versuchen Unbeteiligte ein Durchkommen, besinnen sich dann eines Besseren und wenden sich, eine alternative Route anstrebend, in eine der Seitengassen. In der Mitte des Platzes hat man einen langen Korridor hin zum Haupteingang der Hofburgkapelle abgesperrt, der jetzt den ankommenden Ehrengästen einen ungehinderten Zugang ermöglicht. Wie die Bewegungen eines riesigen, langsam rotierenden Organismus branden die Wellen der grau-schwarzen Masse an diese Absperrung. Diese Bewegung hört mit einem Schlag auf, wenn einer der geladenen Trauergäste eintrifft, sich in den Korridor begibt und raschen Schrittes zur Hofburgkapelle schreitet. Der Organismus erstarrt und alles konzentriert sich für einen Moment auf die vorbeieilende hohe Persönlichkeit. Kaum ist diese in der Kapelle den Blicken entschwunden, besinnt sich die Menge wieder aufs Neue ihrer Bewegungen und beginnt unaufhaltsam, neue Wellen von Menschen an das Gitter branden zu lassen.
Die trauernden Menschen hoffen, neben dem österreichischen Hochadel auch ausländische Hoheiten zu sehen, die häufig in Wien erscheinen, wenn aus Europas ältestem und ehrwürdigstem Herrscherhaus ein Mitglied zu Grabe getragen wird. Doch an diesem 3. Juli wartet die Menge vergebens. Abgeschreckt von den ausgesprochen unfreundlichen Rahmenbedingungen der Begräbnisfeierlichkeiten haben es hochrangige Ehrengäste vorgezogen, den Trauerfeiern fernzubleiben und stattdessen die ohnehin in Wien akkreditierten Vertreter zu entsenden. Mit dem Fortschreiten der Wartezeit wird daher eine leichte Enttäuschung unter den Wartenden spürbar, die sich in umso heftigerem Drängen bemerkbar macht. Schließlich wird der Umschwung in der allgemeinen Stimmung eindrucksvoll dadurch angezeigt, dass das Drängen der Massen durch die ankommenden Ehrengäste nicht mehr unterbrochen wird. Man sieht ja die Militärs, Botschafter und Minister, die da mit ernster Miene den Korridor entlangschreiten, ohnehin laufend in Wiener Kaffeehäusern.
Gerade als die Wellenbewegungen endgültig zu verebben drohen, ist ein vorsichtiges Hupen im Hintergrund zu vernehmen. Der grau-schwarze Organismus teilt sich auf einer Seite, um einem Automobil, das sich langsam vorwärtskämpft, Platz zu machen. Parallel zur Bewegung des Wagens breitet sich unter den Umstehenden ein Raunen aus, das mit Fortdauer des automobilen Dahinrollens in kräftiges Jubeln übergeht: „Der Thronfolger!“ „Erzherzog Karl!“ Rufe erschallen aus vielen Kehlen. In Windeseile wissen alle am Platz und in den umliegenden Straßen, dass in dem Wagen, der soeben in den Korridor einfährt und auf den Eingang der Hofburgkapelle zuhält, das nunmehrige Thronfolgerpaar sitzt. Kaum kommt der Wagen zum Stehen, eilt einer der unzähligen Soldaten herbei, um die Tür im Fond zu öffnen.
Erzherzog Karl steigt, unmittelbar gefolgt von seiner Gattin, aus dem Automobil. Hochrufe, tosender Jubel und Applaus begleiten die kaiserlichen Hoheiten auf dem kurzen Weg in die Kapelle. Diese ungewöhnliche und ehrenhafte Auflehnung des Thronfolgerpaares gegen die der Wiener Bevölkerung