33 Tage. Marko Rostek
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Conrad gibt daraufhin mit einem nachdenklichen Kopfschütteln zu verstehen, dass er mit dieser Wendung nicht einverstanden ist. Eine Weile geht man dann wieder schweigend nebeneinander her und stellt sich im Volksgarten auf Wunsch Berchtolds in den Schatten einer großen Eibe. „Herr Minister, wie schon in unseren letzten Unterredungen betont“, Conrad beobachtet, wie Berchtold seinen Zylinder vom Kopf nimmt und den Gehstock über den linken Arm hängt, „weise ich nochmals darauf hin, dass die Zeit gegen uns arbeitet. Der Waffengang gegen Serbien ist unausweichlich für die Monarchie. Jede Verzögerung kann uns teuer zu stehen kommen.“ „Können Sie, Herr General, garantieren, dass Russland ruhig bleibt?“ Berchtold wartet die Antwort nicht ab, denn Conrad kann das selbstverständlich nicht. „Nein, das können Sie nicht und auch sonst kann es niemand! Wir haben daher der Entscheidung Seiner Majestät zu entsprechen und die Stellungnahme aus Berlin abzuwarten. Ich füge hinzu, dass ich diese Auffassung teile.“ Berchtold, ungeduldig geworden, erhebt erstmals gegenüber Conrad seine Stimme. Er muss sich jedoch eingestehen, dass er in den Unterredungen mit Conrad, Tisza und dem Kaiser keinen einheitlichen Standpunkt vertritt, sondern jeweils in abgeschwächter Form in die eine oder andere Richtung pendelt. Er hat seine Linie noch nicht gefunden und setzt daher viel auf die Meldung aus Berlin und den von dort erhofften Rückhalt. „Die Unterlagen sind vorbereitet und fertig und mit dem für diese heikle Mission vorgesehenen Mann habe ich bereits gesprochen. Er wird die Aufgabe übernehmen.“ Conrad blickt fragend auf Berchtold. Der General, zehn Jahre älter als Berchtold, lässt sich jedoch nicht dazu verleiten, diesen Blick mit Worten zu ergänzen. Berchtold erahnt die Bedeutung von Conrads Blick, hat aber keine Lust auf rhetorische Spielchen, sondern klärt ihn kurzerhand über seine Personalentscheidung auf: „Mein Sektionschef Alexander Hoyos bricht morgen nach Berlin auf!“
Conrad salutiert zufrieden lächelnd und verlässt mit der Bitte um ehestmögliche Mitteilung über diese Berliner Mission den Minister des Äußeren. Leopold Berchtold bleibt noch eine kurze Weile im Park stehen und blickt Conrad nach, wie dieser den Kieselwegen entlangmarschiert und alsbald hinter einer Hecke verschwindet. Er weiß, dass er sich mit seiner Wahl, Sektionschef Hoyos nach Berlin zu entsenden, einen kleinen Vorteil im Ringen um weitere Entscheidungen des Kaisers gegenüber Tisza verschafft hat. Hoyos ist innerhalb seines Ministeriums ein Verfechter der Präventivschlaggruppe und, gemeinsam mit Graf Forgách, der dieser Gruppe ebenfalls zuzurechnen ist, der Verfasser der Denkschrift, die nun in Berlin vorgelegt werden soll. Dieses Memorandum spiegelt in großen Zügen zwar auch seine, Berchtolds, Ansichten und jene Tiszas wider, ist jedoch nach dem Attentat von den beiden Ministeriumsbeamten mit schärferen Schlussabsätzen in Bezug auf eine raschere Lösung des serbischen Problems ergänzt worden. Diese Empfehlung zur raschen Problemlösung deckt sich vollkommen mit den Ansichten des Chefs des Generalstabes, der sich genau aus diesem Grund eines seiner seltenen Lächeln hat entlocken lassen.
Leopold Berchtold angelt nach einem Taschentuch in seiner Rocktasche, blickt in den wolkenlosen Himmel und wischt sich Schweißtropfen von der Stirn. Er setzt seinen Zylinder wieder auf, nimmt seinen Stock vom Arm und wendet sich in Richtung Ballhausplatz. Während der Minister des Äußeren langsam seinem Büro entgegenschlendert, drängen sich in der heißen Sommersonne die letzten Trauernden in die Hofburgkapelle, bevor diese unter wütenden Protesten der zurückgedrängten Bevölkerung verschlossen wird.
***
Jeden Abend bringen die Postbediensteten des Monarchen die kaiserlichen Depeschen und weitere Post von Potsdam nach Berlin in die Reichskanzlei. Dort werden diese an den Übergabestellen von Beamten der Reichskanzlei in Empfang genommen und im Hause an die vorgesehenen Adressaten verteilt. Die Post für den Kanzler des Deutschen Reiches, Theobald von Bethmann Hollweg, wandert, so wie in vielen anderen europäischen Hauptstädten auch, über unzählige Schreibtische in vielen Büros, bevor sie bei ihm ankommt. Bis dahin wird die Post von Mitarbeitern geöffnet, mit Eingangsstempel und Datum versehen, vorsortiert und zuletzt einem engen Mitarbeiter im Vorzimmer Bethmann Hollwegs zu dessen weiterer Bearbeitung übergeben.
„Herr Reichskanzler, in der Post von Seiner Majestät ist heute auch der neueste Bericht von Botschafter Tschirschky. Ich denke, Sie sollten sich das sofort ansehen.“ Der Mitarbeiter Bethmann Hollwegs hat die Tür geöffnet und nur seinen Kopf hereingesteckt, während er diese Meldung weitergibt. Bethmann Hollweg ist erst heute Nachmittag von einem dringend notwendigen Erholungsurlaub ins Büro zurückgekehrt und blickt von seinen Unterlagen auf. Ein wenig irritiert steht er auf und folgt seinem Mitarbeiter zu dessen Schreibtisch. Auf einem hohen Stapel unbearbeiteter Poststücke liegt an oberster Stelle der Bericht von Leonhard Tschirschky und schon auf den ersten Blick sind die unzähligen Anmerkungen des Kaisers deutlich zu sehen. „Gibt er wieder einmal was zum Besten“, denkt Bethmann Hollweg, greift nach dem Schriftstück und überfliegt die kaiserlichen Notizen. Überrascht von der Schärfe und Direktheit der Ausdrucksweise gibt er das Schreiben seinem Mitarbeiter zurück und weist ihn an, Tschirschky davon zu unterrichten. Dieser solle von Stund’ an seine Haltung gegenüber Österreich ändern und seine bisher gezeigte Zurückhaltung und Rücksichtnahme ablegen. „Gemäß den Wünschen des Kaisers“, Bethmann Hollweg hebt den Bericht nochmals bedeutungsvoll in die Höhe und schwenkt ihn einige Male hin und her, „lautet ab jetzt unser neues Programm gegenüber Österreich: Rasche, entschiedene und wirksame Tat!“ Er legt das Schreiben wieder zurück auf den Schreibtisch seines Mitarbeiters, geht in sein Büro und schließt hinter sich die Tür. „Sehr gut, das beginnt ja ausgezeichnet“, flüstert er leise in sich hinein und spürt, wie eine wärmende Zufriedenheit in ihm aufsteigt.
SAMSTAG, 4. JULI
Heftiger Gewitterregen prasselt an die Glasscheibe des Kommandostands des Fährschiffes. Immer wieder donnert und blitzt es aus einem schwarzen, wolkenverhangenen Himmel. Die Donau wird durch den böigen und stürmischen Wind aufgepeitscht und fortwährend schlagen kräftige Wellen an die Backbordseite des kleinen Dampfers. Jetzt, in der Mitte des Flusses, ist die gefährlichste Passage zu überwinden, denn hier sind die Strömungen am stärksten, erst recht in einer Gewitternacht wie der heutigen. Ächzend und schnaufend kämpft sich das Schiff durch die Gischt vorwärts, mal aufwärtsgehoben, mal seitwärtsgestoßen. Wieder zeichnet ein greller Blitz unwirkliche Schatten. Die Helfer auf der Fähre sind triefend nass und haben alle Hände voll zu tun, die Pferde an Deck ruhig zu halten. Wären nicht die Blitze, der Kapitän könnte den Bug seines Schiffes nicht erkennen. Gegen Mitternacht ist dieses Gewitter aufgezogen und hat begonnen, sich just in dem Moment in aller Heftigkeit zu entladen, als der Trauerzug in Pöchlarn am Bahnhof einlangt.
Nachdem Franz Ferdinand schon zu Lebzeiten verfügt hat, dass die letzte Ruhestätte seiner Familie das Schloss Artstetten sein soll, hat dies Montenuovo Anlass gegeben, auch hier noch lenkend einzugreifen. Den Auszug der Särge und den Trauerzug zum Westbahnhof hat er für spät abends angesetzt, um eine geringe Anteilnahme in der Bevölkerung zu erreichen. Daher dürfen entsprechend seinen Anweisungen die Särge erst um 22 Uhr die Hofburg in Richtung Westbahnhof verlassen. Wieder ist nur die kleinstmögliche Eskorte vorgesehen und wieder hat man keine Ehrenbezeugungen für die Toten aufgeboten. Trotzdem wird der Trauerzug von den Mannschaften der Wiener Hausregimenter und von Hunderten Angehörigen der hochadeligen Familien Wiens begleitet. Auch am Bahnhof ist entgegen den schäbigen Verfügungen des Obersthofmeisters ein großes Aufgebot habsburgischer Familienmitglieder eingetroffen, um den Zug zu verabschieden. Allen voran hat es sich der Thronfolger Erzherzog Karl nicht nehmen lassen, die Särge bis hierher zu begleiten.
Jetzt sind sie an Bord des kleinen Fährschiffes und schlingern im ärgsten Gewittersturm dem gegenüberliegenden Ufer entgegen. Endlich kann der Kapitän die zwei Lichtpunkte ausmachen, die die Landungsstelle anzeigen. Unter Aufbietung größter Kraftanstrengung bringt er das Schiff auf Kurs und ringt mit den Naturgewalten